Ein „ungültiges“ Wittenberger Ordinationszeugnis als Geschenk
Nachdem Luther erklärt hatte, dass die Priesterweihe kein Sakrament ist, entstand in Wittenberg alternativ ein „evangelischer“ Ritus, mit dem Pfarrer in den Pfarrdienst eingeführt wurden – die Ordination. Wittenberg entwickelte sich zum zentralen Ordinationsort für die Kirchen der Reformation. Nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus Ungarn und Böhmen kamen Theologen nach Wittenberg, um hier die Ordination mit Handauflegung, Gebet und Segen zu empfangen. In der Regel war dafür der Wittenberger Stadtpfarrer zuständig. Als Ordinatoren wirkten seit 1537 Martin Luther, Johannes Bugenhagen und Paul Eber. Zwischen 1537 und 1560 wurden in Wittenberg 1.979 Personen ordiniert. Der Ordination ging eine Lehrprüfung voraus – das Ordinandenexamen. Dafür war Melanchthon zuständig. Er verfasste auch die Texte für die Ordinationszeugnisse. Aufgrund der rasch zunehmenden Zahl von Ordinationen wurde seit 1545 ein gedrucktes Formular verwendet, in das der Name des Ordinanden, der künftige Ort seines Wirkens und das Datum eingetragen wurden. Unterschrieben wurde das Zeugnis von den an der Ordination beteiligten Theologen. Mit dem Zeugnis wurden dem Ordinanden die Lehrfähigkeit und das Führen eines christlichen Lebenswandels attestiert. Erwähnt wurde auch Ordinationsversprechen, mit dem sich der Ordinand zur wahren christlichen Lehre bekannte. Diese Lehrverpflichtung gehört bis heute zur Ordination in den evangelischen Kirchen.
Das vorliegende Ordinationszeugnis ist ein „ungültiges“ Musterexemplar. Der Name eines Ordinanden ist nicht eingetragen. Es fehlen auch die Unterschriften. Allerdings hatte Melanchthon an der Stelle des Datums die Jahreszahl „1556“ mit der Angabe „festo quo“ („an dem Fest ...“) geschrieben. Unten findet sich eine Notiz von anderer Hand: „Philippus Melanthon Joachimo a Berge d[ono] d[edit] die 31 Martij anno 1556“ (Von Philipp Melanchthon Joachim von Berge als Geschenk verehrt am 31. März 1556). Offenbar schrieb der Empfänger diese Notiz – der aus Schlesien stammende Diplomat und Staatsmann Joachim vom Berge (1526–1602), Erbherr auf Herrndorf und Kladau (Schlesien). Er hatte in Wittenberg bei Melanchthon studiert (Immatrikulation 1544). Sollte dieses „Geschenk“ – das ungültige Formular eines Ordinationszeugnisses – ein Andenken sein an das Studium in Wittenberg?
Joachim vom Berge hatte sich in seinem Studium nicht nur mit Philosophie und Rechtswissenschaften, sondern auch mit Theologie beschäftigt. Unmittelbar vor dem Antritt einer Europareise mit Stationen in den Niederlanden, England, Paris, Orléans, Bourges, Genf, Zürich, Bern, Basel, Freiburg, Straßburg, Württemberg, Padua, Bologna, Venedig, Steiermark, Kärnten, Österreich, Ungarn und Polen hatte er sich in Wittenberg Zeugnisse ausstellen lassen – offenbar in der Absicht, sie bei der Kontaktaufnahme mit Gelehrten im Ausland als Empfehlungsschreiben zu nutzen. In Wittenberg hatte ihm der Jurist und Rektor der Universität Joachim von Beust am 12. April 1556 ein Abgangszeugnis übergeben – mit Empfehlungen an den italienischen Juristen Mariano Sozzini (1482–1556) und den französischen Rechtsgelehrten Franciscus Duarenus (1509–1559) in Bourges. Am 1. Mai 1556 stellte Melanchthon ein Zeugnis aus, in dem er Joachim vom Berge hervorragende Kenntnisse nicht nur der Rechtswissenschaften, sondern auch der Theologie bescheinigte. Mit Eifer habe dieser „die unverfälschte Lehre der Kirche gelernt, die er mit Gottesfurcht [pie] und standhaft [constanter] in sein Herz geschlossen habe“. Auf dem Hintergrund dieser Zeugnisse ist das „ungültige“ Ordinationszeugnis mehr als nur ein „Souvenir“ aus Wittenberg. Auch wenn Joachim vom Berge nicht ordiniert wurde, bescheinigte ihm Melanchthon mit diesem symbolischen Geschenk seine Rechtgläubigkeit und theologische Bildung.
Verfasser: Hans-Peter Hasse
Signatur: Mscr.Dresd.C.59,2 (zum vollständigen Digitalisat)
Edition der Quelle: Text des gedruckten Ordinationszeugnisses [für Lorenz Heunisch, 25. März 1545] ediert in: MBW.Texte Bd. 14, Nr. 3860. Edition des Textes mit handschriftlicher Datierung von Melanchthon und Schenkungsvermerk von Joachim von Berge mit Datum in: MBW Nr. 7775 [Regest, Edition geplant].
Literatur: Das Katalogisat mit weiteren Literaturangaben zur Handschrift finden Sie in der Datenbank Kalliope - dem zentralen Nachweisinstrument für Handschriften, Autographe und Nachlässe.