Mehr als nur eine Marginalie
Aufgeschlagen ist hier eine Seite eines Buches aus der Bibliothek Martin Luthers: die bereits vorgestellte lateinisch-deutsche Ausgabe der Augsburgischen Konfession und deren Apologie (1531), die Melanchthon seinem Freund schenkte – mit einem handschriftlichen Dedikationsvermerk auf dem Titelblatt: „D[omino] Doctori Martino. Et Rogo ut legat et emendet“ (Herrn Doktor Martinus. Und ich bitte, dass er es lesen und verbessern möge). Das Buch enthält zahlreiche Unterstreichungen und Marginalien von Luthers Hand, die zeigen, wie er bei der Lektüre mit der Feder in der Hand las und das Gelesene meditierte. Wichtige Stellen wurden von ihm durch Unterstreichungen oder Stichworte am Rand hervorgehoben. Nur im Ausnahmefall ließ sich Luther dazu anregen, längere Ausführungen an den Rand zu schreiben, wie im hier gezeigten Beispiel: Luther kommentiert in der Apologie einen Abschnitt zur Rechtfertigungslehre, in dem das Thema „Von der Liebe und der Erfüllung des Gesetzes“ behandelt wird. Melanchthon hatte hier die Geschichte von der Salbung Jesu durch die Sünderin (Lukas 7, 36-49) angeführt, um an dem Beispiel zu zeigen, dass der Sünder nicht durch Werke der Liebe, sondern durch den Glauben gerechtfertigt wird. Erzählt wird von einer Frau, die – von schwerer Schuld belastet – Jesus im Haus eines Pharisäers aufsuchte und seine Füße mit Tränen benetzte und mit kostbarem Salböl salbte. Problematisiert wird das Wort Jesu an den Pharisäer: „Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.“ (Lukas 7, 47) Das Missverständnis, es sei hier das Werk der Liebe der Grund für die Sündenvergebung, wird von Melanchthon abgewehrt mit dem Wort, das Jesus am Ende der Geschichte zu der Frau spricht: „Dein Glaube hat dir geholfen!“ (Lukas 7, 50)
Bei der Lektüre dieses Textes ließ sich Luther dazu anregen, den Inhalt der Geschichte noch einmal zu rekapitulieren und zu reflektieren. Der Text, den er dazu an den Rand schreibt, beginnt bereits auf der Seite vorher (Bl. N 3r) mit dem Stichwort „Dilexit multum“ (Sie hat viel geliebt) aus dem Bibelzitat. Die Marginalie liest sich als eine Paraphrase des Dialoges Jesu mit dem Pharisäer, die zum Teil so stilisiert ist, dass Luther für Jesus den Disput mit dem Pharisäer fortsetzt. Zunächst stellt er klar, dass der Frau die Sünden nicht aufgrund der Liebe vergeben wurden, die sie Jesus erwies, sondern ihr Glaube habe sie gerechtfertigt. Luther erklärt die zeitliche Reihenfolge, dass der Sünderin schon vor (!) ihrem Zeichen der Liebe an Jesus die Sünden vergeben wurden durch ihren Glauben. Luther schreibt an den Rand: „3. Ipsa parabola confirmat remissionem gratuitam esse priorem et sequi dilectionem, quia is, cui plura dimittuntur, plus diligit.“ (3. Die Parabel selbst zeigt, dass zuerst die Vergebung umsonst geschenkt wird, dann folgt die Liebe, denn der, dem viel vergeben wird, liebt umso mehr.) Luther stellt fest, dass Jesus hier das rhetorische Stilmittel „Hysteron-Proteron“ (Das Spätere als das Frühere) eingesetzt habe. Bei der Anwendung dieser Redefigur kommt es zu einer Umkehrung der zeitlichen oder logischen Reihenfolge einer Aussage, das heißt: Der spätere Vorgang – hier: die erst am Schluss der Geschichte festgestellte Vergebung aufgrund des Glaubens („Dein Glaube hat dir geholfen!“) – bezeichnet, was zeitlich und logisch einem früheren Vorgang vorausgeht – hier: die Aussage Jesu „Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt.“ Luther findet in der Geschichte noch zwei weitere Redefiguren. Damit ist die Marginalie ein schönes Beispiel dafür, wie Luther die Stilmittel der humanistischen Rhetorik in der Exegese und in der Auseinandersetzung mit seinen theologischen Gegnern einsetzt. Am Ende (unten auf dem Rand) wechselt Luther in seinem fiktiven Disput mit dem Pharisäer vom Latein ins Deutsch: „Wie gefellt dir das? Ich spreche sie [die Sünderin] auch fur euch und nach ewrem eigen gesetz recht.“
Verfasser: Hans-Peter Hasse
Signatur: Mscr.Dresd.A.130 (zum Digitalisat).
Edition der Quelle: WA 30 III, S. 490, 6-29 mit RN S. 111; Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche ... [Ausgabe 1930; 9. Aufl.], S. 190; vgl. auch Peters: Apologia Confessionis ..., S. 436 f.
Literatur: Das Katalogisat mit weiteren Literaturangaben zur Handschrift finden Sie in der Datenbank Kalliope - dem zentralen Nachweisinstrument für Handschriften, Autographe und Nachlässe.