Der Rat Wittenbergs wird gebraucht
Immer wieder wurden Martin Luther und die anderen Reformatoren Wittenbergs von außerhalb um Rat gefragt. Mit ihren zumeist gemeinschaftlichen Gutachten nahmen sie erheblichen Einfluss auf den Verlauf der Reformation. Auch nach Luthers Tod waren die Wittenberger gefordert, eine Reihe von Stellungnahmen vor allem zu den innerprotestantischen Auseinandersetzungen zu verfassen.
Das an die Theologen der pommerschen Landesuniversität in Greifswald gerichtete Gutachten von Philipp Melanchthon vom Februar 1551 greift in den dortigen Ordinationsstreit ein, in dem über die richtige Weise der Einsetzung in ein geistliches Amt debattiert wurde. Auslöser dafür bildete im Jahre 1550 auf kirchenpolitischer Ebene die Amtseinführung des Greifswalder Theologieprofessors Johannes Freder (1510–1562) zum Superintendenten von Rügen durch den Generalsuperintendenten von Pommern-Wolgast Johannes Knipstro (1497–1556), ebenfalls ein Greifswalder Professor. Knipstro überschritt damit nicht nur seinen Machtbereich, da Rügen zu jener Zeit noch der kirchlichen Jurisdiktion des dänischen Bistums Roskilde unterstand, sondern er übergab Freder dieses Amt außerdem, ohne ihn vorher ordiniert zu haben. Der Bischof von Roskilde, Peder Paladius (1503–1560), forderte daraufhin für sich ein, Freder zu ordinieren. Als Freder dann selbst einen Geistlichen in ein Amt einsetzte, obwohl er zuvor weder von Paladius noch von Knipstro die Ordination erhalten hatte, kam es zur theologischen Auseinandersetzung. Freder eröffnete diese mit einem Aufsatz, in dem er die Notwendigkeit der Handauflegung für eine ordnungsgemäße Amtseinsetzung bestritt. Darauf reagierte Knipstro im Januar 1551 mit einer gereizten Gegenschrift.
Melanchthons Stellungnahme, sicher bewusst an keiner Stelle die Namen der beiden Kontrahenten erwähnend, beinhaltet einen Abriss der Wittenberger Lehre zur Ordination. Dabei ist es dem Reformator wichtig, dass die Einsetzung in ein geistliches Amt in der evangelischen Kirche auf breiter biblischer Grundlage beruht. Vier entscheidende Bestandteile umfasst die Ordination: zunächst die ordentliche Wahl oder Berufung in das Amt, sodann eine Prüfung, welcher theologischen Lehrauffassung der Kandidat anhängt, desweiteren die Bestätigung vor der Gemeinde und schließlich das Gebet. Dabei kann die Bestätigung vor der Gemeinde sowohl mit Worten als auch durch Handauflegung geschehen. Mit der Handauflegung werde ein apostolischer Brauch aufgenommen, der auch bei der Ordination in Wittenberg üblich ist. Sichtlich um Ausgleich bemüht, vermerkt Melanchthon allerdings auch, dass der Akt der Handauflegung als ein äußerliches Zeichen veränderlich („mutabilia)“ sei.
Obwohl es sich bei dem erhaltenen Manuskript Melanchthons lediglich um einen Entwurf des Gutachtens handelt, ist davon auszugehen, dass dessen Wortlaut in der vorliegenden Form den Greifswalder Theologen zugesandt wurde, zumal Wittenbergs Stadtpfarrer und Reformator Pommerns Johannes Bugenhagen mit seiner Unterschrift sowie dem Dank an Melanchthon und der Zustimmung zu dessen Ausführungen keinen Änderungswunsch verband. Durch Bugenhagens Approbationsvermerk vom 25. Februar 1551 am Ende von Melanchthons Gutachten war dieses zu einem Ratschlag Wittenbergs geworden.
Die Stellungnahme Melanchthons beendete die Auseinandersetzung allerdings nicht, sondern der pommersche Ordinationsstreit zog sich noch über Jahre hin, sodass die Wittenberger später erneut um Rat in dieser Angelegenheit gebeten wurden. Letztlich fand jener Streit erst 1556 mit Freders Übernahme der Superintendentur in Wismar und dem Tod Knipstros sein Ende.
Verfasser: Volker Gummelt
Signatur: Mscr.Dresd.R.97,Bl.94r-97v.99r-106r (zum Digitalisat).
Edition der Quelle: MBW Nr. 6003; CR 7, Sp.740-744 (Nr. 4854); Vgl. auch Bugenhagen-Briefwechsel, hrsg. von Otto Vogt, S. 487f. (Nr. 244).
Literatur: Das Katalogisat mit weiteren Literaturangaben zur Handschrift finden Sie in der Datenbank Kalliope - dem zentralen Nachweisinstrument für Handschriften, Autographe und Nachlässe.