Vorreformatorische Mess-Traditionen im lutherischen Gottesdienst
Für die gottesdienstliche Musikpraxis sahen Luther und „die Seinen“ kaum drängenden Reformbedarf. Entgegen der landläufigen Vorstellung kam es nicht zur Einführung eines dominanten Gemeindeliedes; vielmehr wurde die alte Messe im Wesentlichen beibehalten – und mit ihr die zugehörige Musik. Die Traditionsbindung ging sogar weiter als für die „katholische Reformation“, deren Richtungsentscheidungen auf dem Trienter Konzil (1545–1563) formuliert wurden.
Das vorliegende Manuskript enthält eine Komposition von Josquin Desprez (um 1450/1455–1521): ein Satzpaar aus Kyrie und Gloria für die „traditionelle“ Messe. Luther schätzte die Musik Josquins sehr: Dieser sei „der Noten Meister“, und seine Musik sei so organisch und ungezwungen wie das Evangelium; dass sie Menschenwerk sei, sei ihr nicht anzumerken. Dies rechtfertigte, dass diese gezielt „vorreformatorische“ Musik noch lange einen zentralen Platz in der lutherischen Musikkultur einnahm. Auch in der sächsischen Schulordnung von 1580 wird Josquin als musterhafter Komponist ausdrücklich erwähnt.
In diesem Gloria ist der normale Messtext jedoch erweitert. In seinem Inneren steht normalerweise eine Reihe von Anrufungen: „Domine Deus, Rex caelestis, Deus pater omnipotens“, lautet die erste; eine zweite folgt als „Domine fili unigenite Jesu Christe“, eine dritte als „Domine Deus, Agnus Dei, Filius Patris“. Im Laufe des Mittelalters war zusätzlich der zweiten Anrufung „Spiritus et alme orphanorum paraclite“ eingefügt worden (oben auf der Seite endend), nach der dritten „Primogenitus Mariæ virginis matris“ (unten).
Solche Einfügungen, „Tropus“ genannt, zogen in der Reformationszeit den Verdacht auf sich, das christlich Eigentliche zu verfälschen. Und so streifte die katholische Kirche sie beim Trienter Konzil ab, gleichzeitig mit den Hymnen und den meisten Sequenzen. Diese geistlichen Dichtungen des Mittelalters gerieten in Misskredit: als ein von Menschen gemachter Zusatz zum gregorianischen Choral. Derlei Probleme hatten die frühen Lutherischen nicht; lateinische Hymnen gehörten noch lange zum liturgischen Repertoire, ebenso einzelne Sequenzen und sogar dieser Tropus.
Mit ihm wird Maria in die Messtext-Anrufungen einbezogen. Nicht einmal dies war anstößig für Lutheraner: Luther hatte Maria als Glaubensvorbild aufgefasst; in seiner Magnificat-Vorlesung spricht er davon, dass sie, die den Willen Gottes ohne großes Überlegen umsetzt und dessen Sohn zur Welt bringt, ein christliches Ideal verkörpere.
All dieses Traditionelle wurde also mittransportiert, als diese Abschrift entstand. In den 1560er-Jahren wurde an der Fürstenschule St. Afra in Meißen in großem Umfang Aufführungsmaterial hergestellt, geschrieben zumeist von Schülern. Im Winter 1564/1565, kurz vor dem Schulabschluss, wirkte Erasmus Radewald daran mit. Die Tenorstimme zu Josquins Gloria datierte er mit „12. Decemb. 1564“ und fügte seine Initialen „ERP“ in den Notenkopf des Schlusstons ein. „P“ verweist auf Pirna, wo er 1542/1543 geboren worden war; in Meißen ging er zwischen Ostern 1559 und 1565 zur Schule. Entsprechend souverän wirkt die Notenschrift dieses schon älteren Schülers. Nach einem Studium in Universität Wittenberg (ab 30. Juli 1566) wirkte Radewald von 1568 bis zu seinem Tod 1593 als „Cantor und Schul-Collega bei S. Elisabeth“ in Breslau.
Josquins Gloria, im Katholizismus seit 1563 nicht mehr aufführbar, wurde hier also noch 1564 für den lutherischen Gebrauch neu kopiert – und daraufhin vermutlich jahrzehntelang musiziert.
Verfasser: Konrad Küster
Signatur: Mus.Gri53 (5 Stimmbücher), Nr. 11, Stimmbuch Tenor, fol. 218r (zum Digitalisat).
Edition der Quelle: New Josquin Edition [NJE] (die vorliegende, relativ junge Quelle war für die Werkedition allerdings ohne Bedeutung).
Literatur: Album Academiae Vitebergensis, hg. v. Karl Eduard Förstemann, Bd. I/2, Leipzig 1841, S. 105; Jahrbücher der Stadt Breslau von Nikolaus Pol, hg. von Johann Gustav Büsching und J. G. Kunisch, Bd. 4, Breslau 1823, S. 161; Konrad Küster: Musik im Namen Luthers. Kulturtraditionen seit der Reformation, Kassel etc. 2016, S. 19–28; Wolfram Steude: Die Musiksammelhandschriften des 16. und 17. Jahrhunderts in der Sächsischen Landesbibliothek zu Dresden. Leipzig und Wilhelmshaven 1974 (Quellenkataloge zur Musikgeschichte; 6), S. 90f.; Anna Vind: Luther’s Reflections on the Life of a Christian. Expounded on the Basis of His Interpretation of the Magnificat, 1521. In: Transfiguration: Nordic Journal of Religion and the Arts, Kopenhagen 2012/13, S. 7–27.