Schächer oder Christus? Antijudaismus bei Luther
Die Sammlung von sogenannten „Tischreden“ Martin Luthers, aus der der vorliegende Text stammt, wurde von Caspar Kummer (Khumer), Pfarrer in Ortrand in der Niederlausitz, angelegt. Er beendete die Arbeit daran am 22. November 1554. Als Quelle dienten ihm die Aufzeichnungen Anton Lauterbachs (1502–1569), aus denen er einen Großteil seiner Texte schöpfte. Damit gehört die vorliegende Handschrift zu den von Lauterbachs Sammlung abhängigen Tischredensammlungen.
Der aufgeschlagene Band gliedert sich in zwei große Abschnitte. Der erste Teil der Sammlung enthält eine Vielzahl von Tischreden aus den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts. Diese sind weder chronologisch noch thematisch geordnet. Der zweite Abschnitt enthält Tischreden aus den Jahren 1541 bis 1543, zu denen auch das vorliegende Stück gehört.
Martin Luther berichtet von zwei Rabbinern, die ihn besuchten, um Geleitbriefe zu erbitten. Luther stellte ihnen die Briefe aus. Sie gefielen den Rabbinern gut, „... wenn ich [Luther] nur nit den Thola, id est, crucifixum Iesum hette hin ein gesetzt. Nam hoc nomen Iesum non possunt non blasphemare“ (wenn ich nur nicht den „Thola“, den gekreuzigten Jesus, hinein gesetzt hätte. Denn sie können nicht anders, sie müssen den Namen Jesu lästern). Der Sinn dieser schwer verständlichen Aussage erschließt sich, wenn man die Parallelversionen der Tischreden und eine Stelle aus Luthers Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543) berücksichtigt, wo Luther die Begegnung mit den Juden etwas anders erzählt. Danach seien drei (!) Rabbiner zu ihm nach Wittenberg gekommen in der Hoffnung, sie würden einen „neuen Juden“ an ihm finden, da sie gehört hätten, dass in Wittenberg Hebräisch gelesen und die Bücher der Juden studiert werden. Luther berichtet über ein theologisches Gespräch mit den jüdischen Gelehrten. „Aus Barmherzigkeit um Christi willen“ habe er ihnen Empfehlungsbriefe für freies Geleit ausgestellt. Die Erwähnung des Namens Jesu in dem Brief habe jedoch bei den Juden Anstoß erregt. Nach ihrem Abschied habe er erfahren, dass sie Christus „Tola“ genannt hätten.
Offenbar ist hier die große Ähnlichkeit zweier hebräischer Wortstämme von Bedeutung. Das hebräische Wort für „Wurm“, wie es in Psalm 22, 7, Hiob 25, 6 und Jesaja 41, 14 vorkommt, leitet sich von תלע ab, während das Wort für „Aufgehängter / Erhängter“ von תלה (vgl. Genesis 40, 19 und 22) abgeleitet wird. Das hebräische Wort für „Wurm“ kann als Sinnbild für einen schwachen, unbedeutenden oder verspotteten Menschen verwendet werden, wie es im sogenannten „Leidenspsalm“ Jesu ausgedrückt wird: „Ich aber bin ein Wurm [hebr. toleah] und kein Mensch, ein Spott der Leute und verachtet vom Volke.“ (Psalm 22, 7) Es ist möglich, dass die Juden mit Luther über die christologische Deutung des Psalmes diskutiert hatten. Das würde erklären, warum auf dieses Wort angespielt wird. Luther unterstellt jedoch, die Juden hätten nach ihrem Abschied Christus verspottet und „tola“ genannt, das bedeute: „erhängter Schächer“ (Straßenräuber). Damit wird auf den Verbrecher angespielt, der neben Jesus gekreuzigt wurde. Luther sah in der Anspielung eine Lästerung des Gottessohnes. In der Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ zog er daraus die Konsequenz: „Darum will ich mit keinem Juden mehr zu tun haben. Sie sind, wie S. Paulus sagt, dem Zorn übergeben [1. Thess 2, 16]. Je mehr man ihnen helfen will, je härter und ärger werden sie. Lass sie fahren!“
Dieser Bericht illustriert den Antijudaismus des späten Luther. Luther nahm daran Anstoß, dass die Juden Jesus von Nazareth nicht als den verheißenen Messias anerkannten. Er übernahm den spätmittelalterlichen christlichen Antijudaismus unreflektiert und verlieh ihm kraft seiner Person eine dauerhafte Stimme. Damit war er allerdings nicht der Auslöser späterer antisemitischer Bewegungen. Trotz der unerträglichen Äußerungen Luthers über die Juden besteht ein Unterschied zwischen seinem theologisch begründeten Antijudaismus und dem Rassenwahn der Nationalsozialisten. Verhängnisvoll war allerdings, dass Luthers antijüdische Schriften im 19. und 20. Jahrhundert zur Rechtfertigung des Antisemitismus herangezogen wurden und sich inhaltlich auch dafür eigneten.
Verfasser: Alexander Bartmuß
Signatur: Mscr.Dresd.A.180,Bl.407v (zum Digitalisat).
Edition der Quelle: WATR 4, S. 523 (Nr. 4804).
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