Autograph der Woche Ausgabe 76 von 95 |

Sammlung mit Passionskompositionen von Johann Walter, Abschrift Johann Reinmann, 1550.

Signatur: Mus.Gri.11

Das Startkapital des ersten Grimmaer Fürstenschul-Kantors

Als im Jahr 1550 in Grimma die dritte, jüngste sächsische Fürstenschule eingerichtet wurde, wurde die Kantorenstellung Johannes Reinmann aus Mühlhausen übertragen. Er hatte die Stellung bis 1590 inne.

Es muss eine seiner ersten Amtshandlungen gewesen sein, dass er eine Abschrift zweier Choralpassionen nach Matthäus und Johannes anfertigte, datiert mit dem 1. Oktober 1550. Ihre Musik geht auf Johann Walter zurück, den engen musikalischen Berater Luthers schon in dessen „Deutscher Messe“ von 1526; Walter war jedoch eher Kompilator als Komponist dieser Musik.

Die Praxis, Evangelium-„Lesungen“ zu singen, leitet sich aus dem Spätmittelalter her. Luther selbst gab (mit Walters Hilfe) in der „Deutschen Messe“ von 1526 eine Handreichung dafür; erzählende Texte wurden in mittlerer Tonlage vorgetragen, Worte Christi in tiefer, Worte aller anderen Akteure in höherer, und zwar durchgängig von einem einzigen Sänger. Demgegenüber ist der Vortrag des Passionsevangeliums aufwendiger.

Die zugehörigen Quellen beziehen sich auf die Torgauer Walter-Handschriften. Sie überliefern zunächst nur die kurzen mehrstimmigen Abschnitte für die Wortbeiträge von Gruppen (Volk, Jünger etc.); in der Grimmaer Abschrift sind zudem erstmals auch die solistischen Teile des Evangelienvortrags wiedergegeben (zusätzlich zu den mehrstimmigen Sätzen; es handelt sich insofern um etwas Partiturähnliches). Die zugrundeliegende Textversion ist noch älter als Luthers Bibelübersetzung von 1534.

Anders als in normalen Gottesdiensten sollte die Lesung mit verteilten Rollen vorgetragen werden. Zu Beginn steht hier eine Rede Jesu, in tieferer Lage als der anschließende erzählende Bibeltext vertont; ihr vorangestellt ist das Wort „Christus“. Dasselbe ist ganz schwach auch am Ende der 3. Zeile zu erahnen; kaum deutlicher haben sich die Angaben „Evang.“ erhalten. Ohne Zweifel gehörten sie zur ersten Eintragungsschicht; weshalb sie im Gegensatz zu allem Übrigen nahezu völlig verblasst sind, ist unklar.

Ohne diese Werke, so scheint es, konnte sich Reinmann sein Grimmaer Wirken nicht vorstellen – wie auch zahlreiche jüngere sächsische Kantoren. Für Grimma wird diese Traditionspflege anhand jüngerer handschriftlicher Zusätze besonders farbig: Sie stammen von Samuel Jacobi, der Kantor der Zeit um 1700; er fügte aus seiner aktuellen Praxis Kirchenliedstrophen in den Evangelienvortrag ein.

Nur „Ich lieg im Streit“ stammt aus der Zeit Luthers; es ist die 5. Strophe des Liedes „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ“ (EG 343) von Johannes Agricola, einem Schüler Luthers schon im Jahr 1516. „Was mein Gott will“ (EG 364) hingegen entstand erst um 1550 (von Herzog Albrecht von Preußen), also gleichzeitig mit Reinmanns Abschrift. Und mit „Was Gott tut, das ist wohlgetan“ (EG 372) griff Jacobi zu einem modernen Lied von Samuel Rodigast (1649–1708). Und Jacobi war nicht der erste, der in dieser Richtung dachte; Markierungen wie „++“ zum untersten System verweisen in der gesamten Handschrift offensichtlich auf andere, ältere, aber nicht erhaltene Interpolationen.

Erst mit Jacobis Summe aus Bibeltext und Choralstrophen wirkt das musikalische Konzept wie eine Vorstufe der großen Passionen Bachs. Eigentlich handelt es sich aber um eine gesungene Lesung: Für das Gedenken an die Kreuzigung Christi, von der sich der lutherische Gedanke der christlichen „Rechtfertigung allein aus Gnade“ herleitet, sollte eine besondere Liturgie gepflegt werden. Sie wurde zu einem Kennzeichen der sich formierenden Konfession.

Verfasser: Konrad Küster

Signatur: Mus.Gri.11 (Partitur, 3 Faszikel aus unterschiedlichen Zeiten), Faszikel 3, Nr. 1, fol. 6r (zum Digitalisat).

Edition der Quelle: Johann Walter, Sämtliche Werke: Vierter Band, Kassel u. a. 1973, S. 3–22.

Literatur: Wolfram Steude, Die Musiksammelhandschriften des 16. und 17. Jahrhunderts in der Sächsischen Landesbibliothek zu Dresden, Leipzig und Wilhelmshaven 1974 (Quellenkataloge zur Musikgeschichte, 6), S. 70f.; Katalogisat in RISM.