Die Entwicklung der Memorialbilder der Wittenberger Reformatoren zeigt, dass zunächst Halbfigurenporträts verbreitet wurden, wie sie zum Beispiel Johannes Agricola (ca. 1530–1590) gemeinsam mit dem Wittenberger Drucker Gabriel Schnellboltz in einer Holzschnittserie herausbrachte („Wahrhafte Bildnisse etlicher gelehrter Männer“, 1562). Nach Luthers und Melanchthons Tod verstärkte sich die Tendenz, die Reformatoren auch als Ganzfigurenporträts darzustellen. Mit Bildnissen in Lebensgröße wurde an den Stil repräsentativer Fürstenbildnisse und an die Darstellung Verstorbener auf Grabplatten angeknüpft. Der stilistische Wechsel vom Halbfigurenporträt zum Ganzfigurenporträt lässt sich auch an den Bildern in der „Dresdner Reformatorenbibel“ beobachten, mit denen der Wittenberger Erzschmied Hans Reichknecht seine Lutherbibel ausstatten ließ. Bei Porträtholzschnitten, die die Reformatoren nur als Halbfigur zeigen, ließ er durch einen Künstler jeweils den unteren Teil ergänzen, so dass daraus Ganzfigurenporträts entstanden. Nur bei dem Bildnis des Wittenberger Stadtpfarrers Johannes Bugenhagen (1485–1558) wurde diese Ergänzung nicht vorgenommen. Bei dem Porträt, das Bugenhagen mit einem aufgeschlagenen Buch in den Händen als Halbporträt zeigt, handelt es sich um das Fragment eines Holzschnittes der Cranachwerkstatt (1546), der den Reformator ursprünglich als Ganzfigur darstellte, doch hatte der Sammler nur den oberen Teil des Bildes erhalten und in seine Sammlung aufnehmen können. Aufgrund von Wasserschäden drückte sich das kolorierte Bildnis wie ein Stempel auf dem Autograph Bugenhagens auf der gegenüber liegenden Seite ab.
Bei dem Autograph handelt es sich um einen Bucheintrag vom 12. Oktober 1552, bei dem Bugenhagen an ein Wort Jesu über das Predigen von Buße und Vergebung (Lukas 24, 46 f.) eine kurze Paraphrase anschloss. Eine lateinische Version dieses Textes hatte Bugenhagen bereits am 8. Juni 1552 in ein Buch geschrieben. Der düstere Ton von Buße und Gericht wird in der deutschen Fassung durch einen Zusatz unter der Unterschrift verstärkt: „Hilf, Christe, durch diese Geduld [...] Lindere die wohlverdiente Strafe. Verkürze diese bösen Tage, sonst wird kein Mensch selig“ (vgl. Apok 14, 12; Matthäus 24, 22). Mit den „bösen Tagen“ meinte Bugenhagen seine Gegenwart. Im Herbst 1552 wütete in Wittenberg die Pest. Die Universität war nach Torgau verlegt worden. Am 7. September berichtet Melanchthon in einem Brief, dass Bugenhagens Enkelin Hannula Cracow an der Pest erkrankt sei. Die Sterne zeigten an, dass Schlimmes bevorstehe. Trotz der Ansteckungsgefahr blieb Bugenhagen in Wittenberg, um als Prediger und Seelsorger seiner Gemeinde beizustehen. Den Bucheintrag schloss er ab mit dem Zitat eines Lutherliedes: „Erhalt uns Herr bei deinem Wort“. Es ist anzunehmen, dass er den Choral in den „bösen Tagen“ der Pest im Gottesdienst singen ließ, der mit der Bitte endet: „... steh bei uns in der letzten Not, / g’leit uns ins Leben aus dem Tod“.
Die Briefe, die Bugenhagen in dieser Zeit an seine Tochter Martha und den mit ihr verheirateten Juristen Andreas Wolf schrieb, die Wittenberg verlassen hatten, vermitteln einen Eindruck von den Sorgen des Vaters und Großvaters. Am 20. September konnte er zwar berichten, dass es der Enkelin Hannula wieder besser geht, doch berichtet er zugleich, dass die Pest sich ausweite und inzwischen auch in Schlesien und in der Lausitz grassiere. Mit den Worten Jesu fordert er seine Familie auf: „vigilate et orate“ (Wachet und betet!, Matthäus 26, 41). Von seiner Frau richtet Bugenhagen Grüße an die Enkelkinder aus mit den Worten: „vivimus si vos vivitis.“ (Wir leben, wenn ihr lebt.) Am 5. Oktober schreibt Bugenhagen seiner Tochter auf Deutsch: „Pestis beginnt linder zu werden. Wir bitten aber vom Predigtstuhl für viele Kranke.“
Verfasser: Hans-Peter Hasse
Signatur: Mscr.Dresd.A.51.a,Bl.21r (zum Digitalisat).
Edition der Quelle: Dr. Johannes Bugenhagens Briefwechsel / gesammelt und hrsg. durch Otto Vogt. Mit einem Vorwort und Nachträgen von Eike Wolgast. Reprografischer Nachdruck der Ausgaben Stettin 1888–1899 und Gotha 1910. Hildesheim 1966, S. 541 f. (Nr. 275).
Literatur: Das Katalogisat mit weiteren Literaturangaben zur Handschrift finden Sie in der Datenbank Kalliope - dem zentralen Nachweisinstrument für Handschriften, Autographe und Nachlässe.