Aus der Meißner Schülerzeit eines späteren Dresdner Kreuzkantors
Das vorliegende Manuskript stammt aus den umfangreichen Musikbeständen, die Wolfgang Figulus als Kantor der Fürstenschule Meißen anlegen ließ; durch seinen Schüler und Schwiegersohn Friedrich Birck gelangten sie in die Schwesterinstitution in Grimma.
Figulus konzipierte seine Sammlungen in Stimmbüchern; für jeden Vokalpart ist ein Buch vorgesehen, nicht also ein voluminöses „Chorbuch“, nach dessen einzigem Exemplar sämtliche Sänger die gottesdienstliche Musik aufführen sollten. Die Stimmbücher sind jedoch kaum übersichtlicher. Im vorliegenden Band (und dessen Partnerbänden für die anderen Singstimmen) sind 41 Kompositionen enthalten, die im Wesentlichen für Gottesdienste der Zeit zwischen Pfingsten und Advent bestimmt sind; Partner-Kompilationen zielen auf andere Zeiten des Kirchenjahres ab, deren musikalisches Angebot traditionell anspruchsvoller ist: im liturgischen Umfeld von Weihnachten, Neujahr, Epiphanias, Passion, Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten.
Manche Eintragungen sind mit Daten versehen, teils auch von Figulus selbst. Sie verweisen offensichtlich jeweils auf den Tag der Eintragung und verteilen sich auf die Zeit zwischen Mai 1560 und Februar 1565; die Erarbeitung der Bücher erstreckte sich demnach über mehrere Jahre. Doch davon ist die hier abgebildete Eintragung nochmals deutlich entfernt: Unten ist sie mit Caspar Füger Dresdens[is] signiert; ihr Schreiber war um 1562 erst geboren worden. Folglich wird hier noch eine andere historische Etappe berührt.
Caspar Füger war Sohn eines gleichnamigen sächsischen Hofpredigers (vor 1521–1593), auf den das Weihnachtslied „Wir Christenleut hab’n jetzund Freud“ (noch 1952 im Evangelischen Kirchengesangbuch als Nr. 22 enthalten) zurückgeht. Der Sohn bezog im Juli 1575 die Fürstenschule in Meißen, wo er sich bis Anfang 1580 aufhielt; 1581 immatrikulierte er sich in Leipzig. Die Eintragung in die Meißner Stimmbücher stammt also aus dieser Schulzeit, und selbst wenn Füger Notenköpfe gewandt schreiben konnte (deren nach rechts abwärts geneigten Striche sind kräftiger gezogen als die aufwärts weisenden), vermittelt das Schriftbild insgesamt einen eher ungelenken Eindruck. Handelt es sich also um eine Eintragung, die Füger schon bald nach seinem Schuleintritt (mit rund 13 Jahren) gemacht hat? Hat er das Stück selbst komponiert, oder verweist der Namenszug auf ihn nur als Schreiber? Jedenfalls zeigt der Altersabstand zu den datierten Teilen des Bandes, dass es sich um einen nachträglichen Zusatz handelt: um ein Amen, das, am Bandanfang eingetragen, fortan in unterschiedlichsten liturgischen Zusammenhängen gebraucht und leicht aufgefunden werden konnte. Mit dem nachfolgenden Werk (einer Messe von Thomas Crecquillon) haben weder die Musik noch die Eintragung etwas zu tun.
Füger war 1585/1586 kurzzeitig Kreuzkantor in Dresden. Als Befürworter der lutherischen Konkordienformel (1580) räumte er den Posten, als für Sachsen der Calvinismus auf die Tagesordnung gerückt wurde. Nachdem sich die konfessionellen Situation erneut verändert hatte (mit dem Tod Christians I. 1591: zurück zum Luthertum), kehrte Füger ins Lehrerkollegium der Kreuzschule zurück, nun als Konrektor; um 1605 stieg er noch weiter auf und wurde Diaconus der Kreuzkirche. In diesem Amt starb er am 24. Juli 1617.
Verfasser: Konrad Küster
Signatur: Mus.Gri.55, Nr. 1, Stimmbuch Bassus, fol. 1r (zum Digitalisat des Mikrofilms).
Edition der Quelle: Nicht nachgewiesen.
Literatur: Karl Held: Das Kreuzkantorat zu Dresden: Nach archivalischen Quellen bearbeitet. In: Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft 10 (1894), S. 239–410, S. 268–274; Wolfram Steude: Die Musiksammelhandschriften des 16. und 17. Jahrhunderts in der Sächsischen Landesbibliothek zu Dresden. Leipzig und Wilhelmshaven 1974 (Quellenkataloge zur Musikgeschichte, 6), S. 93–95.