Autograph der Woche Ausgabe 70 von 95 |

Stephan Schirmeister: Notarielle Beglaubigung für seine Abschrift „ex autographo“ von Melanchthons Vorlesung über das Nizänische Glaubensbekenntnis, 18. Mai 1574.

Signatur: Mscr.Dresd.A.72.a

Ein Melanchthonautograph als Waffe

Im Frühjahr 1574 wurde in Kursachsen ein Prozess gegen Theologen, Professoren und kursächsische Räte eröffnet, denen unterstellt wurde, sie hätten versucht, auf konspirative Weise in Kursachsen den Calvinismus einzuführen. Personen in führenden Positionen an den Universitäten und am Dresdner Hof verloren damals ihre Ämter und ihre Freiheit. Der kursächsische Kanzler Georg Cracow (1525–1575) starb an den Folgen der Folter. Der Universalgelehrte Caspar Peucer (1525–1602), Schwiegersohn Melanchthons, Professor und Leibarzt des Kurfürsten, verbrachte zwölf Jahre in kursächsischen Kerkern.

Als die Verfolgungswelle begann, richtete der Meißner Pfarrer Paul Krell (1531–1579) am 11. April 1574 ein Schreiben an Kurfürst August, in dem er seine Rechtgläubigkeit in der Abendmahlslehre erklärte. Seinem Brief legte er ein Melanchthonautograph bei, das er als einen „Schatz“ bei sich aufbewahrte: bislang unveröffentlichte Teile von Melanchthons Vorlesung über das Nizänische Glaubensbekenntnis (1550). Krell empfahl, den Text drucken zu lassen, da er sich gut als Waffe gegen die „Sakramentierer“ eigne. Diese Initiative Krells war kein Zufall. Kurfürst August hatte kurz zuvor an den Wittenberger Theologieprofessor Georg Major (Krells Schwiegervater!) die Bitte gerichtet, nach einem Autograph Melanchthons zu fahnden, das die Rechtgläubigkeit Melanchthons in der Abendmahlslehre beweisen kann. Die Autorität Melanchthons wurde damals heiß diskutiert. Als ein ehemaliger Schüler Melanchthons wollte Krell die Rechtgläubigkeit seines Lehrers mit der öffentlichen Präsentation eines Melanchthonautographs beweisen. Immerhin hatte Melanchthon in der Vorlesung auch das Thema „Abendmahl“ behandelt. Anfänglich stand der Kurfürst dem Plan einer Veröffentlichung positiv gegenüber. Er beauftragte Krell, für eine Abschrift auf Kosten des Kurfürsten zu sorgen und eine Vorrede zu verfassen. Krell reichte das Druckmanuskript ein. Die Bücherzensur und Diskussionen um die Autorität Melanchthons verhinderten jedoch den Druck. Während das Autograph verschollen ist, blieb die Abschrift – das Druckmanuskript – im Archiv des Kurfürsten erhalten. 1854 gelangte es in den Bestand der Königlichen Öffentlichen Bibliothek Dresden (jetzt SLUB), wo es bis zur Edition im Jahr 1996 „unentdeckt“ schlummerte.

Vorgestellt wird hier die notarielle Beglaubigung der Abschrift von dem Notar Stephan Schirmeister, der bei Melanchthon in Wittenberg studiert hatte, wo er 1558 den Magistergrad erwarb. Sein Notariatssignet zeigt einen Engel, der in der Linken eine Waage hält und in der Rechten ein Schwert (Iustitia), darunter ein Wappenschild mit Verzierung. In das Signet schrieb Schirmeister das Psalmzitat: „Scutum et clupeus veritas Domini. 1574.“ („Ein Schild und ein Schutz ist die Wahrheit des Herrn“, Psalm 91, 5). In der Beglaubigung erklärte Schirmeister, er habe den Text „aus dem Autograph des Autors“ Philipp Melanchthon Wort für Wort abgeschrieben.

Eine notarielle Beglaubigung, dass eine Abschrift mit der „Urschrift“ (Autograph) übereinstimmt, ist vielleicht bei einer Urkunde zu erwarten, nicht jedoch bei dem Text einer theologischen Vorlesung. Dass hier trotzdem die wörtliche Übereinstimmung mit dem Autograph beurkundet wurde, zeigt an, dass es sich um einen religionspolitisch brisanten Vorgang handelte. Tatsächlich wurde der Melanchthontext von Krell im Torgauer Prozess gegen die „Kryptocalvinisten“ als „Waffe“ eingesetzt. Um jeden Zweifel an der Echtheit des Dokuments auszuschließen, hatte Paul Krell die Abschrift notariell beglaubigen lassen.

Verfasser: Hans-Peter Hasse

Signatur: Mscr.Dresd.A.72.a,Bl.182 (zum Digitalisat).

Edition der Quelle: Melanchthon, Philipp: Enarratio secundae tertiaeque partis Symboli Nicaeni (1550), hg. und eingel. von Hans-Peter Hasse. Gütersloh 1996 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte; 64), S. 183-186.

Literatur: Das Katalogisat mit weiteren Literaturangaben zur Handschrift finden Sie in der Datenbank Kalliope - dem zentralen Nachweisinstrument für Handschriften, Autographe und Nachlässe.