Messkomposition einer prägenden lutherischen Kantoren-Persönlichkeit
Bei den Bemühungen um eine Reform des Glaubens schenkte Luther der Jugend besondere Beachtung; in den Blick rückte also das Schulwesen. In Sachsen richtete Herzog Moritz daher seit 1543 in den ehemaligen Klöstern Meißen, Schulpforta und Grimma Landesschulen zur Gewinnung eines akademischen Nachwuchses für das Land ein. Und da Luther der Musik im Bildungswesen eine wichtige Rolle zumaß, prägte diese auch den neuen Schultyp. Die Musikverantwortung lag bei Kantoren; in der Lehrerhierarchie standen sie auf einer mittleren Position.
Der zweite Kantor in der Geschichte von St. Afra in Meißen war Wolfgang Figulus (latinisiert aus „Töpfer“). Um 1525 in Naumburg geboren, hatte er in Frankfurt (Oder) studiert und war nach kurzer Kantoren-Wirkungszeit in Lübben nach Leipzig gezogen; 1549 bis 1551 war er dort Thomaskantor und wirkte dann in Meißen bis zu seiner Pensionierung 1588.
Sein beruflicher Einstieg fiel in die Zeit, in der ein Repertoire „lutherischer“ Kirchenmusik gerade umfassend definiert wurde: in zahlreichen, die liturgischen Anforderungen systematisch erfassenden Notendrucken, die Luthers Weggefährte Georg Rhau zwischen 1538 und 1546 in Wittenberg verlegte. Die Musiksammlungen, die Figulus über Jahrzehnte hinweg zusammentrug, setzen sich davon geringfügig ab; sie spiegeln exemplarisch, wie fortan an den sächsischen Fürstenschulen Musik praktiziert wurde.
Die ältesten Notenbände Figulus’ stammen noch aus dessen Leipziger Zeit; er nahm sie mit nach Meißen, wo er den Bestand massiv ausbaute. Ihn vermachte er seinem Schüler und späteren Schwiegersohn Friedrich Birck, der 1591 als Kantor nach Grimma ging. So bilden diese „Meißner“ Bände einen Grundstock der imposanten Grimmaer Musikalienbestände – und enthalten eben sogar Manuskripte, die etwas mit der Leipziger Thomasschule zu tun haben. Birck fühlte sich diesem Erbe verpflichtet; so lebte in Grimma das reformationszeitliche Erbe wohl intensiver fort als andernorts, wo italienisch geprägte Musik in den Fokus trat, nicht zuletzt durch Heinrich Schütz.
Die Überschrift der vorliegenden Komposition lässt sich als Autorenhinweis deuten: „Guolphgangus Figulus“ datiert dieses Autograph „Lipsiae. 3 Calend: Ianuarij 49“, also am 30. Dezember 1549 in Leipzig. Es handelt sich um eine besondere Komposition für das Gloria der Messe. Der Tenor trägt zunächst in großen Notenwerten den Text „Gratias agimus tibi propter magna[m] tuam gloriam“ vor; die Noten entstammen einer liturgischen Gloria-Melodie, die zum Kyrie „O Christi pietas“ gehört. Der vorausgehende Gloria-Text ist nicht vertont, auch nicht die anschließende Anrufung „Domine Deus, Rex caelestis“, sondern erst wieder die des „eingeborenen Sohnes Gottes“, die um eine heute unübliche Erwähnung des Heiligen Geistes erweitert ist („Domine fili vnigeniite Iesu Christe & sancti spiritus“). Mit diesem Abwechseln, das sich auch in anderen Messen des frühen Luthertums findet, setzt sich die Komposition auch fort.
Wie die ‚fehlenden‘ Textpartikel vorgetragen werden sollten, bleibt offen. Denkbar wäre das Abwechseln mit einer Orgel, wahrscheinlicher jedoch, dass die zugrunde liegende liturgische Melodie im Übrigen einstimmig gesungen wurde. Das Gloria-Lied „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ kann nicht in die Lücken eintreten, weil dessen Strophenbau nicht mit den mehrstimmig behandelten Teilen zusammenpasst. Figulus schrieb diese Musik also für eine typische lutherische Messfeier der Zeit; Lieder spielten in ihr allenfalls eine untergeordnete Rolle.
Verfasser: Konrad Küster
Signatur: Mus.Gri.59 (Stimmbücher; nur Alt und Tenor erhalten), Nr. 35, Stimmbuch Tenor, fol. 45r (zum Digitalisat des Mikrofilms).
Edition der Quelle: Nicht nachgewiesen.
Literatur: Bernhold Schmid: Der Gloria-Tropus Spiritus et alme bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts, Tutzing 1988; Konrad Küster: Musik im Namen Luthers: Kulturtraditionen seit der Reformation, Kassel etc. 2016, S. 112–114; Wolfram Steude: Die Musiksammelhandschriften des 16. und 17. Jahrhunderts in der Sächsischen Landesbibliothek zu Dresden, Leipzig und Wilhelmshaven 1974, S. 103–105.