Karlstadt widmet Andreas Frank aus Kamenz seine Gelassenheitsschrift
Andreas Bodenstein von Karlstadt (1486–1541) gehörte zu den wichtigsten Gestalten der frühen Reformation. Aus dem fränkischen Karlstadt stammend, lehrte er seit 1505 in Wittenberg aristotelische Philosophie und scholastische Theologie. Durch Luthers Augustinauslegungen wurde er zum begeisterten Vertreter der Gnadentheologie, die die alte Werkgerechtigkeit und Ablasslehre ablehnte. Bereits ein halbes Jahr vor Luther goss er diese Vorstellungen in eine Thesenreihe. In der Leipziger Disputation im Sommer 1519 verteidigte er mit Luther gegen Johann Eck die reformatorische Lehre; beide wurden 1520 gemeinsam auf die päpstliche Bannbulle gesetzt. Während Luthers Exil auf der Wartburg wurde Karlstadt zum Kopf der Wittenberger Reformation. Er hielt die Messe auf Deutsch, heiratete und arbeitete an der neuen Stadtordnung mit, die Wittenberg als evangelische Stadt Gottes etablieren sollte. Der von der Wartburg zurückgekehrte Luther bekämpfte die Veränderungen und beschnitt Karlstadts Einfluss. 1523 gab Karlstadt sein Professorenamt auf und begann als „neuer Laie“ ein Leben als Prediger und Bauer in Orlamünde. Zwar wurde er nach den Wirren des Bauernkrieges noch einmal in Sachsen aufgenommen, doch mit einem Schreib- und Lehrverbot belegt, sodass er sich als Krämer verdingen musste. Nach erneuter Flucht fand er 1530 in Zürich Aufnahme. 1534 ging Karlstadt als Professor an die Universität in Basel, wo er an der Pest verstarb. Seine Abendmahls- und Tauflehre wie auch die Vorstellungen von einer Gemeindeverfassung wirkten auf die Ausformung der Schweizer Reformation.
Die „Missive von der allerhöchsten Tugend Gelassenheit“ ist im Oktober 1520 nach der Bannung durch den Papst entstanden. Sie ist Ausdruck der persönlichen Verunsicherung nach der Exkommunikation. Karlstadt wähnte sich lange trotz der theologischen Differenzen auf dem Boden der römischen Kirche. Diese Illusion beendete der Bannstrahl. In der Missive formuliert Karlstadt erste Ansätze seiner Gelassenheitstheologie, die auf die Mystik Johannes Taulers und der „Theologia deutsch“ zurückgeht. Sie besagt, ein Christ habe die Dinge der Welt und sich selbst loszulassen („gelassen“), um Christi Aufruf zur Nachfolge Gottes und zur Annahme des Kreuzes zu folgen. Die Missive inszeniert den nun radikalen Bruch mit dem Papst, dem florentinischen Löwen – Papst Leo X. entstammte dem Geschlecht der Medici. Wenn Karlstadt imaginiert, für den Glauben vor dem Papst wie David vor Absalom (Ps 3,1) zu fliehen, scheint er sein späteres, unstetes Leben vorwegzunehmen. Wie wichtig ihm die Schrift war, zeigt sich daran, dass sie innerhalb von einem Jahr in sechs Separatdrucken und einem Sammelband gemeinsam mit Luthertexten erschien.
Zur Herstellung bzw. Versicherung eines Unterstützernetzwerkes verteilte Karlstadt Druckexemplare mit handschriftlichen Widmungen. Der in Dresden aufbewahrte Druck, der zudem autographe Korrekturen enthält, ist Andreas Frank aus Kamenz (um 1496–1545) dediziert: „Fratri suo Andreę Camicziano“ (Seinem Bruder Andreas aus Kamenz). Der Humanist und Erasmusanhänger Frank war als Professor in Leipzig Hörer der Leipziger Disputation, die sein bereits gewecktes Interesse an der Wittenberger Theologie verstärkte. Melanchthon widmete ihm 1519 seine Aufforderung zum Studium der Paulinischen Theologie. Gemeinsam mit weiteren Universitätskollegen begann Frank, das Neue Testament und reformatorische Schriften zu studieren. Karlstadt nannte ihn in der Widmung einen „Bruder“ im Geist der Reformation. Doch als Herzog Georg 1522 scharfe Edikte gegen die neue Theologie erließ, wandte sich Frank von den Wittenbergern ab. Als Rektor der Universität verbot er im Wintersemester 1522 den Studenten die Lektüre reformatorischer Texte bei Leib- und Lebensstrafe.
Verfasser: Harald Bollbuck
Signatur: Hist.eccl.E.242,23.y (zum Digitalisat).
Edition der Quelle: Otto Clemen: Andreas Frank von Kamenz. Neues Archiv für sächsische Geschichte 19 (1898), S. 95-115; erneut abgedruckt in: Otto Clemen: Kleine Schriften zur Reformationsgeschichte (1897-1903), hrsg. von Ernst Koch. Bd. 1: (1897-1903). Leipzig 1982, S. 3-23.
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