Luthers Lehr und Volkes Mund
Als „kleine Biblia“, „Enchiridion“ (Handbuch) und „Exempelbuch“ hat Martin Luther den Psalter bezeichnet, weil das Buch die Summe aller biblischen Glaubenserkenntnis in sich trage und die Höhen und Tiefen des menschlichen Herzens unmittelbar zum Ausdruck bringe. Luther sah es als seine Aufgabe an, das geschätzte Lehr-, Trost-, Gebet- und Andachtsbuch neu zu kommentieren und zu übersetzen.
Das erste Zeugnis seiner intensiven Beschäftigung mit den Psalmen ist eine auf Luthers Veranlassung 1513 in Wittenberg gedruckte lateinische Ausgabe mit zahlreichen eigenhändigen lateinischen Glossen (heute in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel). Als Professor für Bibelauslegung an der Universität Wittenberg machte Luther die Psalmen zum Gegenstand seiner ersten Vorlesungen in den Jahren 1513 bis 1515. Dank des Zeitzer Kanonikers Johann Ernst Luther (1560–1637), Martin Luthers Enkel und Sohn des sächsisch-kurfürstlichen Leibarztes Paul Luther (1533–1593), gelangte das eigenhändige Vorlesungsmanuskript in die Kurfürstliche Bibliothek zu Dresden und ist trotz eines 1945 erlittenen Wasserschadens erhalten geblieben. Die seit 2015 zum UNESCO-Weltdokumentenerbe zählende Handschrift hat heute einen Umfang von 259 eng beschriebenen Blättern im Format 21,7 x 16,3 cm mit zahlreichen Randbemerkungen, die bei der um 1600 erfolgten Bindung der einst separat benutzten 16 Lagen teilweise beschnitten wurden. Enthalten sind Scholien (Erklärungen) zu 88 der 150 Psalmen.
Beim Schreiben verwendet Luther sehr viele Abkürzungen, wie sie in spätmittelalterlichen lateinischen Handschriften üblich waren. Er formuliert in kurzen Sätzen oder Phrasen mit Stichwortcharakter, lässt dazwischen mehr oder weniger große Abstände und setzt häufig mitten im Satz Punkte, woraus man Rückschlüsse auf seine Vortragsweise ziehen kann. An wenigen Stellen streut Luther deutsche Wendungen und Redensarten in den lateinischen Text ein. So beispielsweise bei der Auslegung des 6. Psalmes (des ersten Bußpsalmes) (Bl. 26v [22v]–27r [23r]): Um seine Interpretation von Vers 8 („Inveteravi inter omnes inimicos meos“ – „ich bin gealtert unter all meinen Feinden“) (Bl. 26v [22v] Zeile 3) als übertriebenen Ausdruck für die starke Sehnsucht Christi nach der Erlösung der Menschen zu verdeutlichen, zitiert er „Hei ich byn schir graw darvber worden“ (und leicht variiert am Rand: „Ich mocht wol graw druber werden“). Die seiner Meinung nach ebenfalls übertriebene Formulierung „Lavabo … lectum meum, lacrymis meis ...“ – „Ich werde … mein Bett mit meinen Tränen waschen“) (Bl. 27r [23r], Zeile 4) in Vers 7 desselben Psalms vergleicht er mit der Redensart „mocht hentt und fuß dar mit waschen“ für solche, die allzu viele Tränen vergießen. An einer Stelle im Kommentar zum 67. Psalm (Bl. 85r [78r] unten) lobt Luther die Vorzüge der „Alemanica lingua“ gegenüber dem Griechischen und Lateinischen dahingehend, dass sich mit ihr Komposita wie „schneeweiß“, „kohlschwarz“, „feuerrot“, „eiskalt“, „steinhart“ bilden lassen. Neben einer eigenhändigen Quittung aus dem Jahr 1512 gehören diese deutschen Einsprengsel zu den frühesten überlieferten deutschsprachigen Äußerungen aus Luthers Feder.
Verfasser: Thomas Haffner
Signatur: Mscr.Dresd.A.138 (zum Digitalisat).
Edition der Quelle: WA 55 II; Dr. Martin Luther's erste und älteste Vorlesungen über die Psalmen : aus den Jahren 1513 - 1516; nach der eigenhändigen lateinischen Handschrift Luther's auf der Königlichen öffentlichen Bibliothek zu Dresden / hrsg ... von Johann Karl Seidemann. – 2 Bde. - Dresden : Zahn, 1876 (Bd. 1).
Literatur: Das Katalogisat mit weiteren Literaturangaben zur Handschrift finden Sie in der Datenbank Kalliope - dem zentralen Nachweisinstrument für Handschriften, Autographe und Nachlässe.