Es geschieht nicht oft, dass man zu einem Druck auch das Manuskript hat, manchmal hat man noch nicht einmal den Originaldruck. Mit dem Manuskriptfragment Luthers ist die SLUB allerdings im Besitz eines Teilstücks der im April 1531 erschienenen Schrift, die er ein halbes Jahr früher niedergeschrieben hat und deren Grundfrage bis heute die Gemüter erregt: Gibt es ein Recht auf Widerstand gegen eine aktiv unchristliche Obrigkeit?
Der Reichstag von 1530 war für die Evangelischen eigentlich eine Enttäuschung. Sie hatten gehofft, durch Darlegung ihrer Glaubensinhalte (Confessio Augustana) zeigen zu können, dass sie mitnichten die Kirche und ihre Grundfesten verlassen hätten, sondern auf dem Boden der Kirche Jesu Christi stehen. Die erhoffte Zustimmung des Kaisers blieb aus, er ließ sich von der katholischen Erwiderung überzeugen, dass die Evangelischen Ketzer seien, die zu bekämpfen sind. Die römische Seite forderte eine Rückkehr zu den alten Formen der Frömmigkeit, deren Missbrauch die Reformatoren angeprangert und abgeschafft hatten. Damit war zu befürchten, dass die Reformation wieder rückgängig gemacht wird.
In der „Warnung an seine lieben Deutschen“ wendet sich Luther im Einklang mit Philipp von Hessen, der als einer der Führer der Evangelischen sorgenvoll den Augsburger Reichstag verlassen hatte, an „alle Deutschen“ – und nicht nur an einzelne Fürsten, Stände oder Territorien. Luther warnt, Einzelinteressen über das gemeinsame Evangelische zu stellen.
Geschrieben hat Luther seine Warnung zwischen dem 30. September 1530 und dem 30. Oktober desselben Jahres. Über die Gründe des späten Erscheinens im April 1531 kann man nur spekulieren, Luther beklagt sich in dieser Zeit über die „Faulheit“ der Drucker. Interessant ist die Schrift vor allem, weil Luther hier klar die Grenze des Gehorsams gegenüber der Obrigkeit beschreibt. Sie ist dort erreicht, wo der Kaiser verlangt, gegen die evangelischen Untertanen vorzugehen. Zunächst schreibt Luther dem Kaiser einen guten Willen im Hinblick auf die Evangelischen zu, doch lasse er sich von den „Papisten“ gegen die Evangelischen vereinnahmen. Zum Beginn des Manuskriptfragmentes beschreibt Luther die Vorgänge auf dem Reichstag in Augsburg. Dann heißt es: „Das sei für jetzt genug zur Entschuldigung des Kaisers gesagt. So wollen wir nun die Warnung geben und die Gründe nennen, weshalb sich jeder hüten soll, in solch einem Fall dem Kaiser zu gehorchen und gegen uns Krieg zu führen. Abermals sage ich aber, wie oben, dass ich niemanden zum Krieg raten oder ihn dazu treiben will.“ (WA 30 III, 298, 13-17, wörtlich in der hier abgebildeten Quelle: „Das sey dis mal genug sagt von entschuldigung des Keysers, wollen wir der warnung thun und ursachen anzeigen, darumb sich ein ieglicher billich soll schewen und furchten, ynn solchem fall dem keyser zu gehorchen und widder unser rat zu beugen. Und sage aber mal, wie droben, das ich niemand wil raten noch hetzen zu kriegen").
Luther warnt davor, sich an der Verfolgung der Evangelischen zu beteiligen. Dies sei der Punkt, an dem der Gehorsam gegenüber Gott und seinem Evangelium höher steht als der Gehorsam z. B. gegen den Kaiser, der in diesem Fall gegen seine „Eid und Pflicht, in der Taufe getan“, handelt. Mit drastischen Worten beschreibt Luther, dass sich mit Sünde und Blut belade, wer sich dem vom Papst verblendeten Kaiser anschließt, um die Evangelischen zu verfolgen.
Die Thematik führte dazu, dass die Schrift im Zuge des Schmalkaldischen Krieges 1546/1547, als die Evangelischen dem kaiserlichen Heer gegenüber standen, mehrfach nachgedruckt wurde, um die Scheu vor einem Widerstand gegen den Kaiser zu überwinden und dem Vorwurf zu entgehen, ein Aufrührer gegen die Obrigkeit zu sein. Versehen wurde die Neuausgabe mit einer Vorrede Melanchthons, der betonte: Widerstand gegen den Kaiser sei – wenn er mit Waffengewalt gegen das Evangelium vorgeht – kein Aufruhr.
Aufgrund der großen Nachfrage wurden in der Druckerei von Hans Lufft in Wittenberg mehrere Ausgaben der Schrift parallel gesetzt. Dabei geriet manches durcheinander, so dass die Texte Varianten aufweisen. Hier hilft das in der SLUB lagernde Manuskript bei der Rekonstruktion des ältesten Druckes. Auch Schreibeigenheiten Luthers gegenüber dem späteren Druck lassen sich in der Handschrift erkennen.
Verfasser: Markus Hein
Signatur: Mscr.Dresd.A.155,Bl.76-83 (zum Digitalisat).
Edition der Quelle: WA 30 III, S. 292-308, als Paralleldruck zur Edition des 1531 bei Hans Lufft in Wittenberg erschienenen Druckes.
Literatur: Das Katalogisat mit weiteren Literaturangaben zur Handschrift finden Sie in der Datenbank Kalliope - dem zentralen Nachweisinstrument für Handschriften, Autographe und Nachlässe.