Melanchthon als Ghostwriter
Bernhard Ziegler (1496–1552) war von 1541 an Professor für Hebräisch, seit 1544 Professor für Theologie an der Universität Leipzig. Er besaß enge Verbindungen zu Luther, Philipp Melanchthon und Joachim Camerarius (1500–1574), die ihn aufgrund seiner hervorragenden Hebräischkenntnisse sehr schätzten. Gelegentlich wurde Ziegler auch von Luther zur Mitarbeit an der Bibelrevision hinzugezogen. Obwohl er den Ruf eines bedeutenden Gelehrten besaß, hinterließ er nur wenige Publikationen. Offenbar konnte er seine rechte Hand, die nach einer Verletzung in der Kindheit schlecht verheilt war, nur eingeschränkt gebrauchen. Vielleicht liegt darin ein Grund für sein schmales wissenschaftliches Œuvre.
Eine der Veröffentlichungen, die mit seinem Namen verbunden sind, ist eine Reihe von Disputationsthesen über den Bibelvers: „Wer mich liebt, der wird mein Wort halten; und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen“ (Joh 14, 23). Angehängt ist ein „Problema“ (Aufgabe, Problem), in dem das Verständnis eines hebräischen Wortes aus Ps 68, 5 erörtert wird. Am 6. Juni 1549 wurde in Leipzig unter Zieglers Vorsitz über diese Thesen disputiert; derartige Rede- und Argumentationsübungen hatten ihren festen Platz im Alltag der protestantischen Universitäten.
Dass die damals vorgelegten Thesen nicht von Ziegler selbst stammen, ist bisher nahezu unbekannt. Die vorliegende Handschrift verrät jedoch den Autor: Sie stammen eindeutig aus der Feder Melanchthons. Das Dokument lässt uns einen Blick auf den Schreibtisch und in die Arbeitsweise des Wittenberger Professors werfen. Zahlreiche Streichungen auf jeder der 17 Seiten lassen nachvollziehen, wie Melanchthon an seinem Text feilte: Er strich einzelne Wörter und fügte passendere Ausdrücke ein, änderte Formulierungen und Sätze, stellte ganze Absätze um und ersetzte ein Zitat durch ein noch treffenderes. Durch diese intensive Bearbeitung reifte der Text, erhielt die nötige wissenschaftliche Exaktheit und den sprachlichen Feinschliff.
Das so ausgearbeitete Manuskript sandte Melanchthon an Ziegler. Das war nicht ungewöhnlich; Melanchthon verfasste zahlreiche Thesenreihen und akademische Reden für andere (von den 180 von ihm verfassten Reden trug er nur etwa ein Drittel selbst vor). Im Anschluss an die Disputation ließ Ziegler die Thesen nach Melanchthons Manuskript in Leipzig drucken, ohne Melanchthons Autorschaft eigens zu erwähnen – auch das war durchaus üblich. Vielleicht war Melanchthon sogar ganz froh darüber, ungenannt zu bleiben, denn Andreas Osiander (1496/98–1552), der streitbare Theologe, der seit 1549 Professor in Königsberg war und schnell in einen heftigen Streit mit Melanchthon und seinen Schülern geriet, fühlte sich durch mehrere im „Problema“ vorgeschlagene Übersetzungen angegriffen und reagierte mit einer polemischen Antwort mit dem Titel: „Brief Andreas Osianders, in dem einige neue und schwärmerische Spinnereien widerlegt werden, die von seinen Rivalen gedruckt gegen ihn verbreitet wurden“. Während des Jahres 1550 verlief diese Angelegenheit jedoch im Sande bzw. ging im nun aufflammenden „Osiandrischen Streit“ um die Rechtfertigungslehre unter.
Verfasserin: Christine Mundhenk
Signatur: Mscr.Dresd.A.89,Bl.60–68 (zum Digitalisat).
Edition der Quelle: Nicht nachgewiesen.
Literatur: Das Katalogisat mit weiteren Literaturangaben zur Handschrift finden Sie in der Datenbank Kalliope - dem zentralen Nachweisinstrument für Handschriften, Autographe und Nachlässe.