Ein Wittenberger Schmied sammelt Autographen der Reformatoren
Zu den besonderen Schätzen in der SLUB Dresden gehört die sogenannte „Dresdner Reformatorenbibel“. Einem handkolorierten Exemplar der 1545 von Hans Lufft in Wittenberg gedruckten Lutherbibel wurden Vorsatzblätter beigebunden, die Porträts und Autographen der Wittenberger Reformatoren enthalten. Neben den „Reformatoren der ersten Stunde“ (Luther, Melanchthon, Jonas, Bugenhagen, Cruciger) sind hier auch Reformatoren der zweiten Generation jeweils mit Bild und Autograph vertreten (Paul Eber, Georg Major). Über das Rätsel, wer der Autographensammler gewesen ist, wurde viel spekuliert. In einer Erläuterung zum Autograph von Justus Jonas notierte dessen Sohn, er habe die Handschrift seines Vaters dem „ehrsamen Meister Hansen, Bürger zu Wittenberg mitgeteilet“, der bei den Bildnissen der „lieben Väter und Praeceptoren (Lehrer)“ auch deren Handschriften haben wollte. Wer war „Meister Hans“?
Durch eine Tiefenprüfung der Quellen konnte die Identität des „Meisters“ geklärt werden. Es handelt sich um den Erzschmied Hans Reichknecht, der in Wittenberg als Besitzer eines Hauses (Scharrenstraße 3, 1550–1589) und mit seinen Schmiedearbeiten auch in den Rechnungsbüchern der Stadt nachgewiesen ist. In der Bibel finden sich auch Eintragungen von seiner Hand. Unter einem Buchholzschnitt mit der Darstellung des Paradieses schrieb er den Reim: „O liebe Kinder leset fleißig unsere Bibel, / so behält unser Haus einen Giebel. H. R. 1560“ (Bl. 30v). Da das Wort „Giebel“ im Frühneuhochdeutschen auch „Stirn“ oder „Schädel“ bedeutet, ergibt sich ein Doppelsinn, der die Bedeutung der Heiligen Schrift für das „Haus der Familie“ ausdrückt. Mit diesem schlichten Reim schrieb der Schmied seinen Kindern die Heilsnotwendigkeit des Bibelstudiums ins Stammbuch, oder besser: in eine „Familienbibel“, die als ein kostbarer Schatz aufbewahrt und an die Kinder weitergegeben wurde. Die ausgeprägte Bibelfrömmigkeit im Hause des Wittenberger Schmiedes führte dazu, dass Reichknechts Sohn Johannes (ca. 1543–1622) und auch der Enkel Philipp (1588–1630) Pfarrer wurden. Johannes Reichknecht wurde am 17. Oktober 1560 an der Universität Wittenberg immatrikuliert. Am 18. Juli 1574 wurde er in der Wittenberger Stadtkirche zum Dienst als Pfarrer im Dorf Gorsdorf (bei Jessen/Elster) ordiniert. Zu einem späteren Zeitpunkt – er wirkte bereits als Pfarrer – schrieb er den hier vorgestellten Text in die „Reformatorenbibel“, mit dem er poetisch die Bedeutung des Bibelstudiums ausdrückte: „Hunc librum serva tandem servaberis ipse,/ servatus semper sicque beatus eris./ Dies Buch halte fest, dir wird das best',/ dich Gott erhält zur Seligkeit.“ Später fügte er noch eine Erinnerung an den König Alfons I. von Neapel (1396–1458) hinzu, von dem überliefert ist, dass er die Bibel 14 mal (!) durchgelesen habe.
Die Notizen zeigen, dass Johannes Reichknecht das Studium der Heiligen Schrift als „heilsnotwendig“ ansah. Er folgte darin der Devise seines Vaters und auch dem Vorbild der Reformatoren, die ihm bei seiner Bibellektüre in Gestalt der Autographen und Porträts plastisch vor Augen standen. Zahlreiche Marginalien bezeugen, dass er seine „Reformatorenbibel“ intensiv studiert hatte. Zudem illustrierte er mit einem Zitat des griechischen Mönchsvaters Nilus von Ancyra († ca. 430) die besondere Last und Verantwortung des Pfarramtes: „omnium rerum laboriosissimum est praeesse animis.“ (Bei allen Aufgaben [des Hirtenamtes] besteht die größte Mühe darin, den Seelen ein Führer zu sein.)
Die Fixierung der reformationsgeschichtlichen Forschung auf „prominente“ Reformatoren hatte zur Folge, dass die Dresdner „Reformatorenbibel“ nur eklektisch ausgewertet wurde. Der Eintrag von Johannes Reichknecht wurde als „unbedeutend“ überlesen. So blieben die Provenienz und damit die besondere Geschichte dieser Autographensammlung im Dunkeln. Der besondere Wert der „Reformatorenbibel“ besteht nicht nur darin, dass uns darin eine einzigartige zeitgenössische Autographen- und Porträtsammlung überliefert ist, sondern sie gestattet uns Einblicke in die private Frömmigkeit eines Wittenberger Handwerkers, der die Wittenberger Reformatoren verehrte und von ihnen den Impuls aufnahm, dass auch Laien dazu berufen sind, die Heilige Schrift zu studieren.
Verfasser: Hans-Peter Hasse
Signatur: Mscr.Dresd.A.51.a,misc.1,Bl.20r (zum vollständigen Digitalisat)
Edition der Quelle: Nicht ediert.
Literatur: Das Katalogisat mit weiteren Literaturangaben zur Handschrift finden Sie in der Datenbank Kalliope - dem zentralen Nachweisinstrument für Handschriften, Autographe und Nachlässe.