Die „Dresdner Reformatorenbibel“ enthält Porträts und Autographen der Wittenberger Reformatoren, die der Wittenberger Erzschmied Hans Reichknecht um 1562 auf den Vorsatzblättern seiner Lutherbibel sammelte. Melanchthon durfte in dieser Sammlung nicht fehlen. Da Melanchthon zu diesem Zeitpunkt nicht mehr lebte, war es nicht möglich, von ihm einen originalen Bucheintrag zu bekommen, wie sie der Reformator früher so oft in Bücher – vor allem in Exemplare der Lutherbibel und in Ausgaben seiner eigenen Schriften – geschrieben hatte. Da Melanchthon oft um Bucheinträge gebeten wurde, waren zahlreiche Bücher mit Eintragungen von seiner Hand im Umlauf. Auf diesen Fundus griff Reichknecht zurück. Es gelang ihm, für seine Sammlung ein Blatt von einem Bucheintrag aus einem anderen Buch zu erwerben. Von diesem Bucheintrag, den Melanchthon 1552 auf zwei Folioblätter geschrieben hatte, wurde nur das zweite Blatt entnommen und in die Bibel Reichknechts eingefügt. Es handelt sich um ein Fragment, bei dem zwar der Anfang fehlt, doch war das zweite Blatt mit der Unterschrift Melanchthons zweifellos das wertvollere Stück für den Sammler. Auf das Blatt klebte Reichknecht ein Porträt Melanchthons auf, das in der Umschrift seinen Wahlspruch enthält: „Si Deus pro nobis, quis contra nos? Rom. VIII“ (Ist Gott für uns, wer kann gegen uns sein?“, Römer 8, 31). Der Holzschnitt wurde von einem Titelblatt der vierbändigen Melanchthonausgabe ausgeschnitten, die Melanchthons Schwiegersohn Caspar Peucer (1525–1602) bei dem Wittenberger Drucker Johannes Krafft in den Jahren 1562 bis 1564 drucken ließ. Es ist anzunehmen, dass Reichknechts Sohn Johannes, der seit 1560 an der Universität Wittenberg studierte, bei der Beschaffung der Raritäten geholfen hat.
Der fehlende Anfang des Bucheintrages lässt sich hypothetisch rekonstruieren, da die Bibelstelle bekannt ist, die Melanchthon diesem Bucheintrag vorangestellt haben muss, wenn er der Regel folgte, zuerst ein Bibelwort und danach eine kurze Auslegung in die Bücher zu schreiben, die ihm vorgelegt wurden. Der Eintrag bezieht sich auf ein oft von ihm zitiertes Bibelwort, das er auf Latein oder Deutsch in Bücher schrieb, das Wort Jesu: „Wer mich liebt, der wird mein Wort halten; und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen.“ (Johannes 14, 23) In Orientierung an dem Stichwort „Wohnung nehmen“ wurde das Bibelwort von Melanchthon ekklesiologisch ausgelegt in dem Sinn, dass die Gläubigen bei Gott Wohnung finden und zur Wohnung Gottes werden, indem sie die reine Lehre des Evangeliums im Glauben annehmen, Christus erkennen und zu Gliedern der Kirche Gottes werden. Weil Gott ihnen Gerechtigkeit, Hilfe und das ewige Leben schenkt, finden sie darin einen „hohen Trost“.
Das Trostmotiv findet sich auch in einem anderen Bucheintrag, den Melanchthon – ebenfalls 1552 – zu dieser Bibelstelle in eine Bibel schrieb (CR 7, 1169). Zu dem Zitat Johannes 14, 23 schreibt Melanchthon: „Dieser Spruch soll allen Menschen sehr wohl bekannt sein und oft betrachtet werden, darin eine sehr nötige Lehre und der höchste Trost gefasst sind.“ Die Stichworte „Lehre“ und „Trost“ gliedern die folgende Auslegung, die inhaltlich ähnlich gestaltet ist wie der Text in der „Dresdner Reformatorenbibel“ bis hin zu wörtlichen Übereinstimmungen. Dieser Vergleichstext und weitere Bucheinträge zu dieser Bibelstelle machen es möglich, für den verlorenen ersten Teil des Bucheintrages den Gedankengang Melanchthons zu rekonstruieren. Von Melanchthons Auslegung von Johannes 14, 23 konnten die Empfänger der Autographen lernen, was „Kirchenmitgliedschaft“ im reformatorischen Sinne bedeutet: nicht Zugehörigkeit zu einer Institution, sondern die Bereitschaft, das Evangelium von Jesus Christus zu „hören, lernen und anzunehmen“ und darin Trost zu finden. Dem Besitzer und Leser einer Bibel schrieb Melanchthon damit das reformatorische Schriftprinzip ins Stammbuch, allein aus der Heiligen Schrift (sola scriptura) von Gott Lehre und Trost für das Leben zu empfangen.
Verfasser: Hans-Peter Hasse
Signatur: Mscr.Dresd.A.51.a,Bl.10v-11r (zum Digitalisat).
Edition der Quelle: CR 7, Sp. 1170 (Nr. 5298).
Literatur: Das Katalogisat mit weiteren Literaturangaben zur Handschrift finden Sie in der Datenbank Kalliope - dem zentralen Nachweisinstrument für Handschriften, Autographe und Nachlässe.