Ein Mädchen setzt seinen Willen durch
„Auf meinem Weg zu des Königs Palast im entlegenen Vilnius
Gehe ich so wie ein Krebs, immer rückwärts gewandt.“
Mit zwei Versen, einem elegischen Distichon, beginnt der Brief, den Georg Sabinus (1508–1560), ein begnadeter Dichter, seinem Schwiegervater in Wittenberg schrieb. Er saß in Frankfurt/Oder auf gepackten Koffern, um im Auftrag seines neuen Dienstherrn, des Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg, zum polnischen König Sigismund II. August aufzubrechen, doch die Reise wurde schon seit mehr als einem Monat immer weiter hinausgezögert. Nicht nur die Reisebedingungen verschlechterten sich durch den herannahenden Winter zusehends, sondern Sabinus wollte unterwegs in Königsberg, wo er bis zum Anfang des Jahres 1555 an der Universität tätig gewesen war, bei Herzog Albrecht von Preußen noch ausstehende Gehaltszahlungen einfordern. Die Verzögerung bedeutete ihm also auch einen finanziellen Verlust.
Nachdem Sabinus seinem Ärger Luft gemacht hat, wird er im zweiten Teil des Briefes persönlicher, denn nun geht es um Familiäres. Sabinus erwartet den Besuch Melanchthons anlässlich einer bevorstehenden Hochzeit in Frankfurt, und er bittet ihn darum, Katharina mitzubringen, damit sie ihre Schwestern treffen und ihre Geburtsstadt kennenlernen könne. Katharina Sabinus war die zweite Tochter des Georg Sabinus und seiner Frau Anna, geb. Melanchthon, also Melanchthons Enkelin. 1539 in Frankfurt/Oder geboren, wuchs sie bei den Großeltern in Wittenberg auf, die sie herzlich liebten und sehr an ihr hingen. Als die Familie Sabinus 1544 ins ferne Königsberg zog, weigerte sich das fünfjährige Mädchen, mitzugehen und durfte schließlich in Wittenberg bleiben. Als Anna Sabinus 1547 starb, holte Melanchthon auch Katharinas Geschwister zu sich: die drei Mädchen Anna, Sabina und Martha und den Säugling Albert. 1549 kam Georg Sabinus nach Wittenberg, um die Kinder wieder zu sich nach Königsberg mitzunehmen, aber erneut widersetzte Katharina sich und konnte durchsetzen, dass sie weiterhin bei den Großeltern bleiben durfte. Nun, sechs Jahre später, war Sabinus, der in der Zwischenzeit erneut geheiratet hatte, mit seiner Familie aus Königsberg zurückgekehrt und hatte in Frankfurt/Oder eine neue Stelle angetreten. Sein Wunsch, die Tochter wiederzusehen und die Schwestern wieder zusammenzuführen, ist verständlich. Um eventuellen Befürchtungen vorzubeugen, stellt er bei seiner Einladung gleich klar: „Sie soll nicht hierbleiben (ich will sie nämlich nicht behalten)“. Aus dem Besuch in Frankfurt wurde nichts, denn der vielbeschäftigte Melanchthon musste nach Nürnberg reisen; aber alle vier Töchter Sabinus – Sohn Albert war 1552 gestorben – blieben während der Reise ihres Vaters gemeinsam bei den Großeltern in Wittenberg.
Katharina blieb auch später ihrer Wahlheimat Wittenberg treu und vermählte sich dort im Sommer 1558 mit Michael Aeneas Meienburg. Ihr war jedoch keine lange Ehe beschieden: Bereits im März 1562 starb sie in Wittenberg, zehn Tage nach der Geburt ihres dritten Kindes, im Alter von nur 23 Jahren. Sie überlebte ihren Vater und ihren Großvater nicht einmal um zwei Jahre.
Verfasserin: Christine Mundhenk
Signatur: Mscr.Dresd.R.97,Bl.120 (zum Digitalisat).
Edition der Quelle: MBW Nr. 7582; CR 8, Sp. 530 f (Nr. 5835).
Literatur: Das Katalogisat mit weiteren Literaturangaben zur Handschrift finden Sie in der Datenbank Kalliope - dem zentralen Nachweisinstrument für Handschriften, Autographe und Nachlässe.