Als Martin Luther am 5. Oktober 1544 in Torgau weilte, um die neue Schlosskapelle einzuweihen, wird ihm der Rektor der Torgauer Lateinschule Markus Crodel (1487–1549) berichtet haben, dass der Rat der Stadt plante, das St. Georg Spital durch Neubauten zu erweitern und den am Spital gelegenen Friedhof zu vergrößern. Dafür wollte der Rat der Stadt ein Gartengrundstück in unmittelbarer Nähe des Spitals erwerben. Der Besitzer des Gartens war jedoch nicht gewillt, seinen Garten zu abzugeben, hatte aber erklärt, dass er bereit sei, das Urteil Luthers in dieser strittigen Angelegenheit zu akzeptieren. Luther empfahl mit dem Schreiben an Crodel, der Besitzer des Gartens sollte für das „gute, christliche und zur Zeit sehr notwendige Werk“ das Grundstück zur Verfügung stellen und an die Stadt verkaufen. Der Vorgang zeigt, dass das Urteil Luthers in kommunalen Streitfällen dieser Art gefragt und anerkannt war. Offenbar war der an Crodel adressierte Brief zur Vorlage gegenüber dem Besitzer des Gartens und dem Rat der Stadt bestimmt, denn es fällt auf, dass Luther das Schreiben zunächst mit einem lateinischen Gruß begann („Gratiam & pacem in Domino! Mi Marce ...“), dann aber auf Deutsch fortsetzte. Gewöhnlich korrespondierte Luther mit Crodel lateinisch, in diesem Fall wählte er jedoch die deutsche Sprache für die lateinunkundigen Mit-Leser des Briefes.
Schon lange war Luther dem Torgauer Rektor freundschaftlich verbunden. Der aus Weimar stammende Crodel hatte an der Universität Wittenberg studiert. Am 10. Oktober 1520 war er an der Leucorea immatrikuliert worden. Am 7. Oktober 1521 erwarb er den Grad eines Baccalaureus artium. Nach seinem Studium fand er zunächst nur eine untergeordnete Anstellung am Hof des Kurfürsten Johann von Sachsen als „Aufseher über das Silbergeschirr“ (principalis argyrophylax). In einem autobiografischen Rückblick (1541) hatte Crodel die subalterne Anstellung als „Silberknecht“ bewusst verschwiegen. Ansehen erlangte er durch sein Wirken als Lehrer an der Torgauer Lateinschule, wo ihm 1529 die Bakkalaureatsstelle übertragen wurde. 1539 wurde er Rektor der Schule, die er nach dem Vorbild der damals führenden Knabenschulen in Goldberg und Zwickau mit einem hohen Anspruch an die Vermittlung humanistischer Bildung leitete. Crodel verfasste für den Unterricht eigene Lehrbücher. So erschien 1541 von ihm eine Einführung in die lateinische Grammatik (Institutiones Grammaticae Latinogermanicae) mit einer Widmung und Empfehlung aus der Feder von Philipp Melanchthon. Die für ihre solide humanistische Ausbildung berühmte Schule in Torgau wurde auch von den Söhnen Wittenberger Professoren besucht. Im August 1542 schickte Luther seinen Sohn Johannes und seinen Neffen Florian von Bora an die Torgauer Schule. In einem Schreiben an Crodel vom 26. August 1542 versprach er dem Torgauer Rektor, ihm die Kosten für die Ausbildung „reichlich“ zu erstatten. Zum Schluss sprach er das Lob aus, dass es keinen Schulmeister gebe, der beim Einüben von Grammatik und strenger Sittenzucht an die Sorgfalt Crodels heranreiche. Dem Kantor Johann Walther soll Crodel die Bitte Luthers übermitteln, sich der Ausbildung seines Sohnes in der Musik anzunehmen. „Denn ich bringe Theologen hervor, aber ich wünsche auch Grammatiker und Musiker hervorzubringen.“
Verfasser: Hans-Peter Hasse
Signatur: Mscr.Dresd.R.96, S. 223 (zum Digitalisat)
Edition der Quelle: WAB 10, 672-673 (Nr. 4037)
Literatur: Zur Person von Markus Crodel: WAB 10, S. 132-135 (Nr. 3783). Das Katalogisat mit weiteren Literaturangaben zur Handschrift finden Sie in der Datenbank Kalliope - dem zentralen Nachweisinstrument für Handschriften, Autographe und Nachlässe.