Ein Melanchthonschüler sorgt sich um die Evangelischen zwischen den Fronten des Katholizismus und des Islam
Den Brief richtet der ungarische Pädagoge und Reformator Leonhard Stöckel (1510–1560) an Philipp Melanchthon (1497–1560), den Mitstreiter Luthers in der deutschen Reformation. Melanchthon bekam vor allem wegen seiner pädagogischen Arbeiten, die er mit seinen reformatorischen Zielen verband, den Beinamen „Praeceptor Germaniae“ – Lehrer Deutschlands. Parallel dazu erhielt Stöckel, der in Wittenberg studiert hatte und in Bartfeld (heute Bardejov, Slowakei) als Rektor eines Gymnasiums und Schulerneuerer wirkte, den Beinamen „Praeceptor Hungariae“. Die Slowakei war zu dieser Zeit unter ungarischer Herrschaft und wurde landschaftlich „Oberungarn“ genannt. Einige oberungarische Städte, unter anderem Bartfeld, bekannten sich 1546 zur Reformation und bildeten ein eigenes Dekanat, das die Durchführung der Reformation in Oberungarn organisierte. Stöckel erhielt den Auftrag, das ungarische evangelische Glaubensbekenntnis, die „Confessio Pentapolitana“ – so benannt nach den fünf sich zur Reformation bekennenden Freistädten in Oberungarn – auszuarbeiten. Dieses Bekenntnis, das 1549 angenommen wurde, lehnt sich eng an die Confessio Augustana von 1530 und die Apologie von 1531 an.
In dem hier vorgestellten Brief wendet sich Stöckel an Melanchthon, um ihm seine Besorgnis hinsichtlich drohender Gefahren für die Reformation in seiner Heimat mitzuteilen und sich seines Beistandes zu vergewissern. Eine besondere Gefahr sieht er in einer türkenfreundlichen Parteiung („… die den Türken mehr Beifall zollen als den Deutschen …“), die durch den Schmalkaldischen Krieg (1546–1547) in ihrer Haltung ermutigt wurde. Das Vorrücken osmanischer Truppen sah man zu dieser Zeit eigentlich mit Besorgnis als Ausbreitung des Islam in Richtung des christlichen Europa (vgl. auch Luthers sog. „Türkenschriften“ von 1528, 1530 und 1541). Jedoch gab es Protestanten in Ungarn, die aus politischem Kalkül heraus mit der türkischen Herrschaft als Gegenmacht zum katholischen Habsburger Herrscherhaus liebäugelten. Umgekehrt erhofften sich die türkischen Herrscher die ungarischen Protestanten, die ca. vier Fünftel der Bevölkerung ausmachten, als Verbündete. Bis ins 17. Jahrhundert befanden sich diese geografisch zwischen dem Osmanischen Reich und dem Habsburger Kaiserreich. Die Diktion des Briefes vermittelt die große Sorge Stöckels um das Schicksal der durch die Protestanten erneuerten Kirche. Er interpretiert die Zeitgeschehnisse als Bedrängnis durch den Antichrist und sieht die Betroffenen vor der Höllenpforte. Schließlich setzt er seine Hoffnung auf Christus, der den Verfechtern des Evangeliums beistehen wird.
Verfasser: Roland Biewald
Signatur: Mscr.Dresd.R.97,Bl.93 (zum Digitalisat).
Edition der Quelle: MBW Nr. 4381, MBW Texte Bd. 15.
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