Unter den Wittenberger Reformatoren gelang es vor allem Philipp Melanchthon, eine große Anzahl von Schülern an sich zu binden. Mit Hilfe einer intensiv gepflegten Korrespondenz hielten er und seine Schüler Kontakt miteinander. So war Melanchthon einerseits gut über den Fortgang der Reformation in den verschiedenen Gebieten und Städten des Reiches sowie in anderen Ländern Europas informiert und konnte dadurch andererseits immer wieder Einfluss nehmen, indem er Rat gab oder manche personelle Entscheidung vorbereitete.
Einer der Meisterschüler Melanchthons war der Pommer Jacob Runge (1527–1595). Dieser hatte seit 1544 bei Luther und Melanchthon in Wittenberg studiert. Ende 1546 floh Runge vor den Wirren des Schmalkaldischen Krieges aus der Stadt und begab sich nach Greifswald, um an der dortigen Universität seine Studien fortzusetzen. Schon 1548 wurde der einundzwanzigjährige Runge Professor für Rhetorik. Vier Jahre später erhielt er eine der Professuren für Theologie, verbunden mit der Greifswalder Stadtsuperintendentur und dem Pfarramt an St. Nikolai. 1555 wurde Runge beauftragt, Gutachten zu theologischen Streitigkeiten in Pommern von den Reformatoren in Wittenberg einzuholen. Hier wurde er von Melanchthon gebeten, ihn nach Nürnberg zur Schlichtung der dortigen Auseinandersetzungen zu begleiten. Sicher geschah dies mit der Absicht, dass Runge so für die Befriedung der Situation in seiner Heimat Erfahrungen sammeln sollte. Die Reise nach Nürnberg im September und Oktober 1555 festigte die enge freundschaftliche Beziehung zwischen Schüler und Lehrer entscheidend. In der freien Reichsstadt trat Runge mit Predigten als getreuer Melanchthon-Schüler öffentlich in Erscheinung. Daher verwundert es nicht, dass man sich dort alsbald nach der Abreise von Melanchthon und Runge bemühte, den Pommern für eine Pfarrstelle zu gewinnen. Melanchthon unterstützte das Vorhaben. Die Ausfertigung der dazu notwendigen Entlassungsurkunde durch Runges Landesherrn, den Fürsten Philipp I. von Pommern-Wolgast (1515–1560) verzögerte sich jedoch über Monate. In dem vorliegenden Schreiben an Melanchthon vom 28. September 1556 schildert Runge nun seinem „Praeceptor“ (Lehrer), dass ihm zu seinem Verdruss die fürstliche Entlassung noch immer verweigert werde. Anhand seiner Worte wird beispielhaft deutlich, wie eng und vertrauensvoll das Verhältnis zwischen Schüler und Lehrer war. Runge berichtet von einem Gespräch drei Tage zuvor, in welchem Fürst Philipp versucht habe, ihn mit der Aussicht auf ein ehrenvolles Amt im Lande zu halten. So bestehe der Plan, Runge zum Bischof von Cammin zu nominieren. Deshalb bittet er seinen Lehrer, dass er ihn bei den Nürnbergern entschuldigen und einen anderen benennen möge, was Melanchthon nach dem Erhalt des Schreibens dann auch tat. Eine Vertrautheit zwischen Runge und Melanchthon wird zudem an Zitaten klassischer griechischer Verse deutlich, die ausdrücken, was Runge angesichts seiner ungewissen Zukunft innerlich bewegt. Schließlich zeigt sich eine enge persönliche Beziehung am Ende des Briefes, wo Runge den Wunsch äußert, dass Melanchthon sich seines jüngeren Bruders Andreas annehmen möge. Dieser befand sich auf dem Weg nach Wittenberg, um dort vom Oktober 1556 bis September 1559 zu studieren.
Am 4. Oktober 1556 und damit nur einige Tage nach dem Abfassen dieses Schreibens starb Runges einstiger Förderer Johannes Knipstro (1497–1556), der Generalsuperintendent von Pommern-Wolgast. Daraufhin bekam Runge von Philipp I. dieses Amt zugesagt, das er bis zu seinem Lebensende innehatte. Mit der unter seiner Leitung entstandenen Kirchenordnung (1563) und einer an dem Vorbild von Melanchthons „Corpus doctrinae christianae“ orientierten Bekenntnissammlung („Corpus doctrinae Pomeranicum“, 1564/1565) prägte der Melanchthon-Schüler Runge das Kirchenwesen Pommerns für Jahrhunderte.
Verfasser: Volker Gummelt
Signatur: Mscr.Dresd.C.107.f,19 (zum Digitalisat).
Edition der Quelle: Nicht nachgewiesen, vgl. MBW Nr. 7975.
Literatur: Das Katalogisat mit weiteren Literaturangaben zur Handschrift finden Sie in der Datenbank Kalliope - dem zentralen Nachweisinstrument für Handschriften, Autographe und Nachlässe.