Autograph der Woche Ausgabe 90 von 95 |

Nikolaus Selnecker: Widmung seiner Rede über das Leben Martin Luthers für Herzog Christian von Sachsen, 1575.

Signatur: Biogr.erud.D.4240

Eine Lutherbiographie als Buchgeschenk

Am 5. Januar 1575 schickte der Leipziger Theologieprofessor Nikolaus Selnecker (1530–1592) ein kleines Büchlein an Kurfürstin Anna von Sachsen mit einer handschriftlichen Widmung an Herzog Christian, den vierzehnjährigen Sohn der Fürstin. In dem Begleitschreiben sagt er, das Buch enthalte, was „aller Jugend zum besten, dieser Zeit nützlich und notwendig“ sei. Es handelt sich um eine lateinische Rede über das Leben Luthers und die Geschichte der Augsburgischen Konfession, die Selnecker am 22. November 1574 an der Universität Leipzig vorgetragen hat. Der Titel lautet (übersetzt): „Historische Erzählung und Rede über den Herrn Doktor Martin Luther, den Elia des letzten Zeitalters, und über die Anfänge, Beweggründe und den Fortschritt der Augsburgischen Konfession sowie über die heilige Eintracht Luthers und Melanchthons, in Leipzig öffentlich vorgetragen am 22. November vor dem Beginn der Vorlesung über die [Augsburgische] Konfession, der akademischen Jugend unbedingt empfohlen wegen der Geschichte und anderer nützlicher Dienste.“ Auf das Titelblatt ließ Selnecker ein programmatisches Bibelzitat drucken, das er vom Titelblatt der Augsburgischen Konfession (1530) übernahm: „Ich rede von deinen Zeugnissen und schäme mich nicht!“ (Psalm 119, 46)

Der konfessorische Ton lässt aufmerken. Tatsächlich setzte Selnecker mit dieser Publikation ein Zeichen in der Zeit eines religionspolitischen Umbruchs in Kursachsen. Im Frühjahr 1574 wurde mit dem Sturz der Kryptocalvinisten (heimlicher Calvinisten) eine scharfe Abgrenzung vom Calvinismus vollzogen. Führende Theologen, Juristen, Räte und Professoren verloren damals ihre Ämter und wurden inhaftiert. An den Universitäten fand eine inquisitorische Säuberungswelle statt, die mit einer Kontrolle der Buchmärkte und einer Verschärfung der Bücherzensur einherging. Kurfürst August war entschlossen, mit einer demonstrativen Abgrenzung vom Calvinismus die Orientierung am lutherischen Bekenntnis zu proklamieren und einen Prozess einzuleiten, der zu einer tiefgreifenden Reform der Kirchen, Schulen und Universitäten und der Herausgabe des lutherischen „Konkordienbuches“ (1580) führte. Mit der Publikation einer Lutherbiographie wollte Selnecker die Autorität Luthers in Kursachsen stärken und die akademische Jugend mit dem Leben und Werk Luthers vertraut machen. Die gedruckte Widmungsvorrede richtete er absichtsvoll an den sächsischen Herzog und Kurprinzen Christian. Sie enthält den Appell, die Wohltaten Gottes – gemeint ist die Reformation Martin Luthers – nicht dem Vergessen preiszugeben. Selnecker ermahnt den jungen Thronfolger, den Glauben seiner Väter zu bewahren. Das lateinische Widmungsgedicht, das Selnecker mit eigener Hand in das Geschenkexemplar für Christian schrieb, stellt den jungen Herzog in die Ahnenreihe des Vaters und Großvaters, deren Glaube ihm als Vorbild vor Augen gestellt wird. Selnecker spielt mit der Bedeutung des Namens „Christian – Christianus“. Die Widmung lautet übersetzt: „An Christian, den berühmten Fürsten Sachsens. Der du christlich bist nach dem Schmuck des Namens, christlich nach dem Geist des Vaters [Kurfürst August] und dem Charakter des Großvaters [Herzog Heinrich der Fromme], nimm gnädig an unsere Rede.“ Mit der Widmung und der gedruckten Widmungsvorrede an Herzog Christian verband Selnecker die Erwartung, dass das Buch der Prinzenerziehung dienen möge. Er sorgte für eine ansprechende Ausstattung des Buches. Der hintere Deckel des Einbandes zeigt ein ganzfiguriges Lutherporträt.

Die Lutherbiographie Selneckers fand eine weite Verbreitung durch zahlreiche Nachdrucke und eine deutsche Übersetzung. 1575 ließ Selnecker den Text in einer Sammlung von Predigten zu den Aposteltagen und Marienfesten des Kirchenjahres drucken. Es handelt sich um eine Art Postille, die von Pfarrern als Predigthandbuch genutzt werden konnte. Für den Martinstag übernahm Selnecker den Text der Lutherbiographie. Seine Empfehlung, am Namenstag Luthers diese Biographie zu lesen und zu rezitieren, ist ein frühes Zeugnis der Lutherverehrung, den Geburtstag des Reformators zu feiern und mit dem Studium seiner Biographie zu verbinden.

Verfasser: Hans-Peter Hasse

Signatur: Biogr.erud.D.4240, Vorsatzblatt (zum Digitalisat).

Edition der Quelle: Hasse, Hans-Peter: Die Lutherbiographie von Nikolaus Selnecker: Selneckers Berufung auf die Autorität Luthers im Normenstreit der Konfessionalisierung in Kursachsen. In: Archiv für Reformationsgeschichte 86 (1995), S. 91–123.

Literatur: Das Katalogisat mit weiteren Literaturangaben zur Handschrift finden Sie in der Datenbank Kalliope – dem zentralen Nachweisinstrument für Handschriften, Autographe und Nachlässe.