Autograph der Woche Ausgabe 39 von 95 |

Brief Melanchthons an Johannes Agricola, nach 3. Februar 1535.

Signatur: Mscr.Dresd.C.59,1

„Es wäre jetzt gar bequem und eine herrliche Gelegenheit für einen Vergleich“: Melanchthon bittet den Freund um seine Meinung

Johann Agricola (1494–1566) gehörte zu der Gruppe reformatorisch gesinnter Theologen, die sich um Martin Luther und Philipp Melanchthon scharte. Wie Luther in Eisleben geboren, war er 1516 nach Wittenberg gekommen, um bei Luther zu studieren. Dort lernte er auch den drei Jahre jüngeren Melanchthon kennen, der seit 1518 an der Leucorea wirkte. Alle drei waren freundschaftlich verbunden, obwohl Agricola sich nicht scheute, sowohl mit Melanchthon (1527) als auch mit Luther (1537/1538) in Kontroverse über die Rolle des Gesetzes im Leben des Christen einzutreten, die er – anders als die beiden Reformatoren – in Frage stellte. Trotz der klaren Worte, die man wechselte, litten Freundschaft und Wertschätzung offenbar nicht darunter. Melanchthon schrieb an ihn als seinen „amicus summus“, seinen „vertrautesten Freund“. Agricola war inzwischen Pfarrer an St. Nicolai und Leiter der Lateinschule in seinem Geburtsort Eisleben geworden, was sich in seinem Namenszusatz „Islebius“ spiegelt.

Anlass für den Brief war der Beginn der Konsensverhandlungen mit dem Straßburger Reformator Martin Bucer, die im Jahre 1536 zur Wittenberger Konkordie führen sollten. Sie betrafen das Abendmahlsverständnis, das die Wittenberger und die von Zwingli geprägte Schweizer Reformation seit dem Abendmahlsstreit zwischen Luther und Zwingli (1525–1529) voneinander trennte. Auch die Abendmahlslehre Martin Bucers, die durch Ambrosius Blarers reformatorisches Wirken in Württemberg Fuß fasste, hatte Ähnlichkeiten mit der Lehre Zwinglis. Das war politisch von nicht geringer Brisanz. Denn Zwingli und seine Anhänger bzw. diejenigen, die mit seiner Lehre sympathisierten, galten als „Sakramentierer“ und sollten möglichst nicht geduldet werden. Überwindung von Spaltung und Einheit in der Lehre bzw. im Bekenntnis waren daher nicht nur von theologischem Wert, sondern auch von politischem Interesse. Es waren Landgraf Philipp von Hessen und Martin Bucer, die die Weichen für Konsensverhandlungen stellten. In Philipp Melanchthon als Repräsentanten der Wittenberger fanden sie einen ebenfalls konsensorientierten Verhandlungspartner. 1534 trafen sich Bucer, der sich vergeblich darum bemüht hatte, auch die Schweizer Theologen an diesem Verständigungsprozess zu beteiligen, und Melanchthon zu Gesprächen in Kassel. Hier konnte bereits eine Annäherung im Abendmahlsverständnis zwischen beiden Seiten erzielt werden, die Bucer und Melanchthon schriftlich niederlegten. Bucer hatte bereits zuvor – wie Melanchthon in seinem Brief an Agricola berichtet – die Prediger der oberdeutschen Städte Ulm, Konstanz und Augsburg hinter sich gebracht. Eine Abschrift dieser in Kassel ausgehandelten Abendmahlsformel gab Melanchthon seinem Brief bei und bemerkte zugleich, dass auch Luther diesem Konsens zuneige. Offenbar waren die Wittenberger an Agricolas Einschätzung der Dinge sehr interessiert. Dass es dabei nicht nur um eine private Meinungsäußerung gehen sollte, zeigt Melanchthons Verweis darauf, dass ihm Kurfürst Johann Friedrich befohlen habe, an ihn und andere heranzutreten. Der Brief an Agricola ist der Auftakt für eine Art Meinungsbildungsprozess unter den Theologen der Wittenberger Reformation, den Melanchthon sehr behutsam in Angriff nehmen wollte. Daher bat er um Vertraulichkeit, um angesichts der günstigen Konstellationen das Erreichte nicht zu gefährden. In einer zeitgenössischen Übersetzung des lateinischen Briefs heißt es: „Es were jetzund gar bequem / vnd herrliche gelegenheit / ein vergleichung zu mitteln / wann man die sache nur recht angriffe“.

Verfasser: Irene Dingel

Signatur: Mscr.Dresd.C.59,1 (zum Digitalisat).

Edition der Quelle: MBW Br. 1538, MBW Texte Bd. 6.

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